RotFuchs 235 – August 2017

Wissenschaftliche Weltanschauung

Über den Artikel W. I. Lenins
„Wie soll man den Wettbewerb
organisieren?“

RotFuchs-Redaktion

Vor vielen Jahren hat der damalige „Deutschlandsender“ eine Sendereihe mit Vorträgen zu Fragen unserer wissenschaftlichen Weltanschauung ausgestrahlt, deren Manuskripte sich erhalten haben und die wir den Lesern des „RotFuchs“ in einer Auswahl zur Verfügung stellen. Man kann diese Vorträge lesen als Kapitel eines Geschichtsbuchs und zugleich als Einführung in die Grundlagen marxistisch-leninistischen Denkens. Viele auch in den Vorträgen zum Ausdruck kommenden Hoffnungen haben sich mit und nach der Konterrevolution von 1989/90 zerschla­gen, manche Prognosen haben den Praxistest nicht bestanden – wesentliche Erkenntnisse von Marx, Engels, Lenin und anderen unserer Theoretiker aber haben nach wie vor Bestand, an ihnen halten wir fest, sie wollen wir – auch mit dieser Serie – vermitteln.

Sendetermin: 17. Januar 1974

Wettbewerb und Konkurrenz sind an sich gleichberechtigte Begriffe. Im politischen Sprachgebrauch haben sie jedoch einen völlig entgegengesetzten Inhalt. Seit mehr als 50 Jahren preisen bürgerliche Politiker und Ideologen die kapitalistische Konkur­renz als die alleinseligmachende Triebkraft wirtschaftlicher Entwicklung – ungeach­tet aller Krisenerscheinungen im Kapitalismus. Und im gleichen Atemzug begegnen sie dem sozialistischen Wettbewerb mit völligem Unverständnis bzw. versuchen sie, ihn mit allen Mitteln zu diffamieren.

Schon die ersten Sätze der Leninschen Arbeit, mit der wir uns heute beschäftigen, zielen auf den Kern des Problems. „Die bürgerlichen Schriftsteller“, heißt es bei Lenin, „schrieben und schreiben ganze Berge von Papier voll, um die Konkurrenz, den privaten Unternehmergeist und sonstige prächtige Tugenden und Reize der Kapita­listen und der kapitalistischen Ordnung zu verherrlichen. Den Sozialisten wurde vorgeworfen, sie wollten die Bedeutung dieser Tugenden nicht erkennen und der ,Natur des Menschen‘ nicht Rechnung tragen. In Wirklichkeit aber hat der Kapitalis­mus längst die selbständige kleine Warenproduktion, unter der die Konkurrenz in einigermaßen breitem Ausmaß Unternehmengsgeist, Energie, kühne Initiative ent­wickeln konnte, durch die fabrikmäßige Produktion in Groß- und Riesenbetrieben … ersetzt. Die Konkurrenz unter einem solchen Kapitalismus bedeutet eine unerhört brutale Unterdrückung des Unternehmungsgeistes, der Energie und der kühnen Ini­tiative der Massen der Bevölkerung, der gigantischen Mehrheit der Bevölkerung …“¹ Und dann legte Lenin in seinen Artikel „Wie soll man den Wettbewerb organi­sieren?“ dar, daß der Wettbewerb dem Sozialismus wesenseigen ist, weil der Charakter der Arbeit sich völlig veränderte.

Wladimir Iljitsch Lenin schrieb diesen Artikel in der ersten Januarhälfte des Jahres 1918. Trotz ihrer relativen Kürze – sie umfaßt nur zehn Druckseiten – ist die Arbeit von historisch weitreichender Aussagekraft. Der Zugang zu ihrem Inhalt wird sicher erleichtert, wenn wir die Lage Sowjetrußlands kurz nach der Oktoberrevolution, um die Jahreswende 1917/18, zumindest in groben Strichen skizzieren.

Außenpolitisch war die Situation durch die zeitweilige Waffenruhe an der Ostfront des ersten Weltkrieges gekennzeichnet. Die junge Sowjetregierung hatte durch ihr erstes diplomatisches Dokument, das von Lenin verfaßte „Dekret über den Frieden“ vom 8. November 1917, die Initiative zur Beendigung des Krieges ergriffen. Am 22. Dezember 1917 waren in Brest-Litowsk Friedensverhandlungen eröffnet worden.

Für die Sowjetmacht war eine Atempause lebensnotwendig. Das Land war durch den Krieg ruiniert. Die eben eroberte politische Macht der Arbeiterklasse galt es mit allen verfügbaren Mitteln zu festigen, die Feinde im Innern des Landes zu entlarven und endgültig aus ihren bisherigen Positionen zu entfernen. Eine Rote Armee mußte auf­gestellt werden, um der drohenden ausländischen Intervention gewappnet entgegen­treten zu können. Die Wirtschaft des Landes war wieder in Gang zu bringen, die werktätigen Massen mußten anhand eigener Erfahrungen lernen, die errungene Macht zu gebrauchen. Unter Führung der bolschewistischen Partei eroberte die Arbeiterklasse entscheidende politische und ökonomische Schlüsselpositionen. Es begann der erbitterte Kampf „Wer – wen?“; wer würde wen auf die Dauer besiegen – das war das entscheidende Problem.

Inmitten dieses Prozesses, in den Wochen der Ungewißheit über den Ausgang der Brest-Litowsker Friedensverhandlungen, befaßte sich Lenin mit einer für das kämp­fende Proletariat völlig neuen Frage: mit der Frage des Wettbewerbs als Triebkraft sozialistischer Entwicklung. Lenin orientierte auf die volle Entfaltung der Initiative der Werktätigen, um den errungenen politischen Sieg ökonomisch zu festigen. Und so ordnet sich dieser Artikel in den Schritt um Schritt durch Lenin ausgearbeiteten Plan des sozialistischen Aufbaus ein.

Wenden wir uns nun unmittelbar dem Leninschen Artikel zu. Hier gilt es zunächst einem möglichen Trugschluß entgegenzutreten. Völlig verfehlt wäre die Annahme, diese Schrift enthalte eine detaillierte Anleitung, wie unter den besonderen Bedingun­gen Sowjetrußlands der Wettbewerb zu organisieren sei. Lenin beantwortete die als Titel gesetzte Frage nicht als zeitlich oder örtlich eng begrenzte Handlungsanwei­sung. Das wäre im jungen Sowjetrußland mit seinen mannigfaltigen Bedingungen wohl auch nicht möglich gewesen. Hier wird vielmehr in konkreter und zum prakti­schen Handeln anspornender Weise das Wesen der sozialistischen Umgestaltung dargestellt. Gerade in dieser Beziehung erweckt der Artikel Lenins unsere besondere Aufmerksamkeit.

Im Mittelpunkt des sozialistischen Umgestaltungsprozesses stand die Herausbildung des neuen Charakters der Arbeit. In der ausbeutungsfreien Arbeit sah Lenin die Grundlage für den Wettbewerb. Genauer gesagt: Der Wettbewerb wurde zu einem organischen Bestandteil der sozialistischen Arbeit.

Die sozialistische Arbeit hat ihre Triebkraft in der freien, vollen Entfaltung der Initia­tive der werktätigen Massen. Erst jetzt, so schrieb Lenin, wird „in breitem Maße, wahrhaft für die Massen, die Möglichkeit geschaffen, Unternehmungsgeist, Wettbe­werb und kühne Initiative zu entfalten“.² Durch die politische Macht der Arbeiter­klasse und die schrittweise Vergesellschaftung der Produktionsmittel wurde den Werktätigen ein Tätigkeitsfeld eröffnet, auf dem sie sich – um mit Lenin zu sprechen – „hervortun, ihre Fähigkeiten entfalten, jene Talente offenbaren können, die das Volk, einem unversiegbaren Quell gleich, hervorbringt und die der Kapitalismus zu Tausenden und Millionen zertreten, niedergehalten und erdrückt hat. Jetzt, da eine sozialistische Regierung an der Macht ist, besteht unsere Aufgabe darin, den Wett­bewerb zu organisieren.“³ Lenin erörterte in seinem Artikel auch das Ziel des Wettbewerbs, seine soziale Funktion und seinen Platz im Gesamtprozeß des sozialistischen Aufbaus.

Der Wettbewerb war vor allem darauf zu richten, Rechnungsführung und Kontrolle als Herrschaftsinstrumente der proletarischen Massen wirksam werden zu lassen. In der konkreten Situation stand die Aufgabe, die Arbeiterklasse auf die Inbesitznahme der gesamten Industrie vorzubereiten, sie zu befähigen, das gesamte gesellschaftliche Leben umzugestalten, den Beweis anzutreten, daß die Arbeiter und Bauern imstande sind, den Staat zu verwalten, den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft zu leiten. Lenin schrieb: „Die große Sache der Ablösung der unfreien Arbeit durch die Arbeit für sich selbst, durch die in gigantischem, gesamtstaatlichem Maßstab … planmäßig organisierte Arbeit, erfordert außer ,militärischen‘ Maßnahmen zur Unterdrückung des Widerstands der Ausbeuter auch riesige organisatorische Anstrengungen des Proletariats und der armen Bauernschaft …“⁴

Lenin orientiert mit seinem Artikel vom Januar 1918 auf jenen Prozeß, den er einige Monate später in seiner Schrift „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ die „Verge­sellschaftung der Tat“ nennt. Mit der Konfiskation, der Enteignung der Fabrik- und Gutsbesitzer allein ist das sozialistische Werk noch nicht vollbracht. Die Enteignung des kapitalistischen Eigentums an Produktionsmitteln konnte nur der erste Schritt zur wirklichen Beherrschung der Produktion sein, die mit der Forderung nach Arbei­terkontrolle über Produktion und Verteilung vorbereitet, eingeleitet und dann gewähr­leistet wurde. Lenin bezeichnete Rechnungsführung und Kontrolle über die Arbeits­menge und über die Verteilung der Produkte als das Wesen der sozialistischen Umgestaltung, nachdem die politische Herrschaft des Proletariats begründet und gesichert ist. Bei der Verwirklichung der im Landesmaßstab einheitlichen Aufgabe, die Rechnungsführung und Kontrolle zu verwirklichen, war es notwendig – und Lenin macht das in seinem Artikel sehr deutlich –, vielerlei Formen des Wettbewerbs durch­zusetzen, die Mannigfaltigkeit der Einzelheiten, der lokalen Besonderheiten, der möglichen Methoden zu erkennen und zu berücksichtigen. Lenin sprach sich gegen jede Schablone bei der Organisierung des Wettbewerbs aus. Er betonte nachdrück­lich, daß er den demokratischen oder – wie er auch formulierte – den sozialistischen Zentralismus als Prinzip und Methode zur zielstrebigen Entwicklung der Initiative der werktätigen Massen ansah. Je einsichtiger und faßbarer die gesellschaftlich ent­scheidenden Aufgaben im Wettbewerb für den einzelnen Arbeiter werden, um so stärker wird sich seine Initiative entwickeln und um so höher wird letztlich auch das ökonomische Ergebnis sein.

In der eigenständigen schöpferischen Gestaltung eines neuen Lebens durch die Werktätigen selbst sah Lenin die Gewähr für die Lebenskraft und Unbesiegbarkeit der Oktoberrevolution. Zum erstenmal nach Jahrhunderten der Arbeit für andere, der un­freien Arbeit für die Ausbeuter, so hob er hervor, bietet sich für die Werktätigen die Möglichkeit, für sich selbst zu arbeiten, und zwar zu arbeiten, gestützt auf alle Errungenschaften der modernen Technik und Kultur.⁵

Zum gleichen Zeitpunkt, da Lenin die Unbesiegbarkeit der Oktoberrevolution mit der Entfaltung der Schöpferkraft des Volkes begründete, orakelte am 5. Januar 1918 der Londoner „Daily Telegraph“: „Die sowjetische Regierung kann jeden Augenblick auf­hören zu existieren, und kein vernünftiger Mensch wird ihr mehr als einen Monat geben.“⁶

Die Entwicklung kündete von der tiefen Einsicht Lenins in die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte. Sein Artikel: „Wie soll man den Wettbewerb organisieren?“ ist einer histo­risch neuen Gesetzmäßigkeit des gesellschaftlichen Fortschritts gewidmet: Charak­teristisch für den Aufbau des Sozialismus und Kommunismus ist die zunehmende soziale Aktivität der Werktätigen unter Führung ihrer marxistisch-leninistischen Partei. Die millionenfache Initiative, die Schöpferkraft des arbeitenden Volkes wird gerade durch den sozialistischen Wettbewerb zur vollen Entfaltung gebracht. Dies ist der entscheidende Gesichtspunkt bei der Erörterung des Leninschen Artikels „Wie soll man den Wettbewerb organisieren?“

Quellen

  1. W. I. Lenin, Wie soll man den Wettbewerb organisieren?
    In: Werke, Bd. 26, Berlin 1961, S. 402
  2. Ebenda, S. 405
  3. Ebenda, S. 402/405
  4. Ebenda, S. 406
  5. Vgl.: Ebenda, S. 405
  6. Zitiert nach: „Junge Welt“ vom 7. November 1957