Über „die Russen“ und über uns
Im Frühsommer 1948 lud das ZK der KP der Tschechoslowakei, deren Staatsbürgerschaft wir damals neben der deutschen besaßen, meinen Vater und mich zu einem Erholungsaufenthalt in die Hohe Tatra ein. Im Speisesaal des in Tatranska Polianka gelegenen Sanatoriums saßen wir Tag für Tag mit einem anderen aus Berlin angereisten Patienten am Tisch. Es handelte sich um Rudolf Herrnstadt, der damals bei der „Berliner Zeitung“ tätig war und wenig später Chefredakteur des Parteiorgans „Neues Deutschland“ wurde. In jenen Monaten beschäftigte ihn, wie er bei gemeinsamen Spaziergängen wissen ließ, neben Titos „besonderem Kurs“ vor allem das Verhältnis zwischen den Deutschen im Osten und ihren sowjetischen Befreiern. Noch im selben Jahr veröffentlichte er den aufsehenerregenden ND-Artikel „Über ,die Russen‘ und über uns“, der wie eine Bombe einschlug und eine landesweite Debatte auslöste.
Während der Autor die mehrheitlich schwankenden und zum Teil sogar sehr konträr eingestellten Deutschen zur „richtigen Einschätzung der Rolle der Sowjetunion“ aufforderte, machte Herrnstadt zugleich keinen Bogen um heiße Eisen. Auf die rhetorische Frage, ob es in der UdSSR nur Gutes, Schönes und Edles gäbe, antwortete er: Dort seien auch Tagediebe, Bürokraten, Karrieristen und Gauner, ja, selbst Mörder anzutreffen. Während in den imperialistischen Staaten jedoch die Gauner den Ton angäben und das öffentliche Leben prägten, Mörder als Stellvertreter der eigentlichen Machthaber Kriege vorbereiteten und die Massen zu unwürdigen Instinkten erzogen würden, befänden sich in der Sowjetunion Leute dieses Schlages historisch auf der Verliererstrecke.
In überfüllten Berliner Veranstaltungen am 10. Dezember 1948 und am 7. Januar 1949 wurde der Herrnstadt-Artikel mit großer Leidenschaft diskutiert. Am zweiten Abend saß ich im späteren Maxim-Gorki-Theater als kleine Maus mit roten Ohren im Publikum, während sich Alexander Abusch, Wolfgang Harich, Luitpold Steidle, Albert Norden, Gerhard Kegel und der sowjetische Hauptmann Tregubow, aber auch viele weniger Bekannte zu Wort meldeten. Die erste Veranstaltung moderierte der namhafte Slawist Prof. Wolfgang Steinitz, die zweite mein Vater, der Jurist Peter Alfons Steiniger, der Rudolf Herrnstadt vertrat.
„Ja, wenn die Russen 1945 (damals lag die Oktoberrevolution in dem europäisch-asiatischen Riesenland erst knapp 28 Jahre zurück! – RF) anders aufgetreten wären, hätten sie die ganze Bevölkerung für sich haben können“, zitierte Herrnstadt ein damals häufig gebrauchtes Ausflucht-„Argument“. Und er widerlegte auch diese heuchlerische Behauptung: „Wir wären alle Bolschewisten geworden. Deutschland war bereit, die Rote Armee als Erlöser zu empfangen.“
Rudolf Herrnstadt wurde nach dem 17. Juni 1953 aus dem Politbüro des ZK der der SED ausgeschlossen. Fortan war er Archivar. Trotz anderer offizieller Begründungen erfolgte dieser Schritt aus meiner Sicht deshalb, weil er – einst Warschauer Resident des Aufklärungsdienstes der Roten Armee (GRU) – Moskaus strategischen Gedanken, eine Österreich-Lösung mit Neutralität und Nichtpaktgebundenheit für ganz Deutschland anzustreben, in der SED durchsetzen sollte. Diese Überlegungen der Großmacht UdSSR hatten in der Stalin-Note ihren prägnantesten Ausdruck gefunden. Walter Ulbricht und andere Politiker der DDR, für die bei einer Verwirklichung des durch die Westmächte aus antikommunistischer Borniertheit zurückgewiesenen sowjetischen Vorschlags offensichtlich keine 40jährige Existenz vorgesehen war, wiesen diese Linie berechtigterweise zurück und hielten am sozialistischen Aufbau fest.
An Herrnstadts wegweisenden Artikel wurde ich beim Versuch einer Analyse der heutigen Rußland-Politik des deutschen Imperialismus erinnert. Es ist schockierend zu erleben, wie Medien und Politiker der BRD nahtlos vom Antisowjetismus zum Russenhaß übergegangen sind. Von der seinerzeitigen Boykotthetze gegen die Moskauer Olympiade zum Giftmischen im Vorfeld der Winterspiele von Sotschi führt ein gerader Weg. Die furchtbaren Mordanschläge in der allen Antifaschisten teuren Heldenstadt Wolgograd mögen von islamistischen Terroristen aus dem Kaukasus begangen worden sein, waren jedoch Teil einer orchestrierten Kampagne des Imperialismus zur Diffamierung des Wettstreits der Sportjugend an der russischen Schwarzmeerküste. Dort hat niemand die Gaucks und Obamas vermißt.
Und auch das ist zu hinterfragen: Warum konzentriert sich eigentlich der Haß der meisten bundesdeutschen Medien nicht auf Sjuganows KP der Russischen Föderation, sondern auf den Staatsmann und Politiker Wladimir Putin? Weder der Sozialismus-Liquidator Gorbatschow noch der Komasäufer Jelzin waren bei den Rußland-„Experten“ der deutschen Konzernpresse jemals in solcher Weise „Mode“. Die Imperialisten hassen Putin, weil sie an ihm nicht vorbeikommen, weil er sein Land – so sehr es auch in ökonomischer und sozialer Hinsicht heruntergekommen ist – weder den USA noch der NATO oder der EU, also den westlichen Wölfen, zum Fraß vorgeworfen hat. Und weil er sich gegen die Preisgabe der nationalen Souveränität Rußlands entschieden zur Wehr setzt. Nicht zuletzt aber auch, weil sein couragierter Außenminister Lawrow das unabhängige Syrien mit Nachdruck verteidigt, wobei er das Pulver des russischen Vetos im UN-Sicherheitsrat trockenhält.
Der Versuch, durch einen Griff Berlins und Brüssels nach der Ukraine Moskau den Zugang zum Erz von Kriwoi Rog, zur Kohle des Donezbeckens und zu den Schwarzmeerhäfen auf der Krim zu verlegen, ist ein Kernstück der imperialistischen Ost-Strategie.
Als ich 1997 im Auftrag der DKP am Parteitag der KP der Ukraine in Kiew teilnahm, spürte ich bereits den Druck des Gegners, aber auch die Bereitschaft vieler, dem Wüten der westukrainischen „Swoboda“-Faschisten, mit denen Klitschkos „U.D.A.R.“ verbündet ist, Einhalt zu gebieten. Pjotr Simonenko, der 1. Sekretär des ZK der standhaft gebliebenen KPU, verdeutlichte mir das in einem etwa zweistündigen Gespräch.
Zu DDR-Zeiten war ich ehrenamtlicher Kreisvorsitzender der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. In der Güstrower Kongreßhalle konnte ich in den 50er Jahren vor einem wohl tausendköpfigen Publikum den Wolga-Volkschor und das Ossipow-Volksinstrumentenorchester willkommen heißen. Wie damals stehe ich auch heute – nun als Teil der großen „RotFuchs“-Familie – für solidarische Verbundenheit mit allen Völkern der Russischen Föderation. Als deutsche Antifaschisten und engagierte Internationalisten folgen wir – rund 65 Jahre später – der Spur Rudolf Herrnstadts, der im damals sozialistischen ND den fanatischen Russen-Hassern eine Abfuhr erteilt hat.
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