„Ich hatte mir dieses wichtige Land gleichsam aufgehoben …“
Über Goethe und China
Lang schon berührt mich eine Maxime, die sich im Umkreis des rätselvollen Spätwerks „West-östlicher Divan“ (1819) findet und die Goethe 1827 auch in seine „Zahmen Xenien“ aufnimmt: „Wenn dir’s bei uns nun nicht gefällt, so geh in deine östliche Welt.“
Aber wo beginnt Goethes „östliche Welt“, wo endet sie? wird man fragen und dabei nicht zu Unrecht auf den Vorderen Orient weisen, Persien vielleicht, um bald schon feststellen zu müssen: Diesem Weltkind, seinem Forscherdrang und seinen Sehnsüchten, ist mit Grenzen, geographischen gar, nicht beizukommen.
Aber Goethe und China – China und Goethe? Nicht ein bißchen weit hergeholt? Keineswegs! Notfalls wollte er in dieses „wichtige Land“, wie er sagt, sogar flüchten. Dies, einem „Urfreund“ gegenüber eingestanden, heben wir uns noch einen Moment auf.
Mit der Bereitschaft, das „Reich der Mitte“ zur Kenntnis zu nehmen, stand Goethe nicht allein. Bekanntlich beschäftigte sich das geistige Europa von Leibniz bis Herder und Hegel mit China, wie in der höfischen Welt von Petersburg bis Paris das ferne Land in Mode gekommen war.
Goethe hält sich, so gut er es vermag, auf dem laufenden, geht Reisebeschreibungen, den Orient betreffend, durch, studiert den Bericht des Marco Polo und neuere Nachrichten. 1783 liest er Pierre Sonnerats „Reise nach Ostindien und China“. Von nun an ist Goethe Jahr um Jahr mit orientalischen Stoffen befaßt.
Umgekehrt erfolgt zeitig ein fernes Echo, nicht zufällig Goethes Geniestück aus Jugendzeiten betreffend, das den Weltruhm begründet hat. So lesen wir in den venezianischen Epigrammen von 1790: „Deutschland ahmte mich nach, und Frankreich mochte mich lesen. England, freundlich empfingst du den zerrütteten Gast. Doch was fördert es mich, daß auch sogar der Chinese malet mit ängstlicher Hand Werthern und Lotten aufs Glas?“
Warum ist der Meister so grämlich? Ein gezieltes Understatement? Warum vermutet er „ängstliche Hand“ bei Leuten, denen Werthers und Lottes Geschick so wichtig war, Motive des Romans zierlich aufs Glas zu malen? Tatsächlich waren solche chinesischen Malereien seit 1779 in Deutschland aufgetaucht – es kann ihn nicht betrübt haben!
Wenn man heutzutage zwischen Tiber und Adige gar manchem Chinesen begegnet, dann war das zweihundert Jahre zuvor ein außerordentlicher Vorfall – falls Goethe mit seinem Gedicht „Der Chinese in Rom“ vom August 1796 überhaupt einen Chinesen meint und nicht vielmehr, auf Kosten der Chinesen, die Arroganz eines Kollegen (Jean Paul) abzustrafen sucht.“ Eigentümlich weist dabei die Absolutheit der konträren Werturteile, in der Sicherheit des Gewohnten ruhend, auch Chinesisches auf.
Mit der tieferen Entdeckung der östlichen Welt, vertiefter Lektüre, ja Nachdichtungsversuchen, wenn auch aus zweiter Hand, differenziert sich Goethes China-Bild. Es geht um reale Kenntnisnahme, so schwierig sie war, und nicht um jede, freilich auffällige, Gemeinsamkeit – sagen wir die Verehrung des Mondlichtes.
Gelegentlich sucht Goethe dem fernöstlichen Sujet auf eigene Weise geheimen Sinn abzugewinnen, so wenn er (in Heidelberg 1815) das Blatt des Ginkgo-Baumes bedichtet. Der Ginkgo-Baum, in seiner Urheimat „Silberaprikose“ geheißen, wird dort als Spender heilsamer Medizin geschätzt und, stets zu zweit, achtungsvoll vor die Tempel gepflanzt. Aber die Entdeckung des Ginkgo-Blattes als Liebessymbol wird man wohl Goethe zuschreiben müssen:
Gingo Biloba
Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Giebt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut.
Ist es Ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Daß man sie als Eines kennt?
Solche Frage zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn,
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Daß ich Eins und doppelt bin?
Über Feinheiten chinesischer Poesie, chinesischer Romane weiß Goethe mit Sachkunde zu urteilen. „Die Menschen denken, handeln und empfinden fast ebenso wie wir, nur daß bei ihnen alles klarer, reinlicher und sittlicher zugeht“, sagt er – man schaue wieder einmal in die Eckermann-Aufzeichnungen (Gespräch vom 31. Januar 1827). Wenn er dabei das Sittliche der vorgefundenen Literatur kräftig hervorhebt, dann gewiß auch, weil die derb-drastischen chinesischen Texte im Abendland noch nicht bekannt geworden sind.
Wenige Wochen später bietet Goethe „Chinesisches“, eine kleine Studie mit Beispielen; „Nachstehende ... Notizen und Gedichtchen“, schreibt er einleitend, „geben uns die Überzeugung, daß es sich trotz aller Beschränkung in diesem sonderbar-merkwürdigen Reiche noch immer leben, lieben und dichten lasse.“
Ebenfalls noch 1827 versammelt er 14 kleine Gedichte unter dem Titel „Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten“.
„Wohin mein Auge spähend brach, Dort ewig bleibt mein Osten“, heißt es dort. Der Kommentator der Berliner Ausgabe sucht mit seiner Fußnote unsere Phantasie auf ein Mädchen festzulegen: „mein Osten – Die Gegend des Sonnenaufgangs; für den Dichter diejenige Gegend, in der die mit der Sonne verglichene Geliebte sich aufhält.“ Da allerdings glauben wir mehr als die Geliebte zu erkennen! Besonders in krisenhafter Zeit ist dem Dichter sein Osten gewiß: „Wenn dir’s bei uns nun nicht gefällt, so geh in deine östliche Welt.“
Das Jahr 1813 mit seinen Kriegsdrommeten und seinem patriotischen Rausch, an dem Goethe nicht teilhaben kann und will, ist ein solches Jahr. In der mit der Welthistorie verknüpften Bedrängnis gesteht er Karl Ludwig von Knebel (1744–1834), seinem Weimarer Freund: „Ich habe die Zeit, mehr um mich zu zerstreuen, als etwas zu tun, gar mancherlei vorgenommen, besonders habe ich China und was dazugehört fleißig durchstudiert. Ich hatte mir dieses wichtige Land gleichsam aufgehoben und abgesondert, um mich im Fall der Not, wie es auch jetzt geschehen, dahin zu flüchten.“ Aufschlußreich fügt er an: „Sich in einem ganz neuen Zustande auch nur in Gedanken zu befinden, ist sehr heilsam.“ (Brief aus Weimar vom 10. November 1813)
Wie er dabei gefördert ist, bleibt Gewinn für uns alle. Ich erinnere mich, wie wir unseren Qigong-Lehrer in Peking mit Goethes Spruch vom Atemholen überraschten und erfreuten, dem 5. der „Talismane“ im „Buch des Sängers“ („West-östlicher Divan“), hielt er sich doch plötzlich mit seiner Kunst verstanden:
„Im Atemholen sind zweierlei Gnaden: / Die Luft einziehen, sich ihrer entladen; / Jenes bedrängt, dieses erfrischt; / So wunderbar ist das Leben gemischt. / Du danke Gott, wenn er dich preßt, / Und dank ihm, wenn er dich wieder entläßt.“
Da werden in Lebenssicht und bis in die Feinheiten des Gedichts Übereinstimmungen möglich, bei denen Orient und Okzident nicht mehr zu trennen sind.
Der Text des Autors entstand im August 1999.
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