Über Junge und Alte
Wir Alten aus dem Osten, welche – die Zeit der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung nach 1945 nicht mitgerechnet – vier Jahrzehnte lang durch die Wissen, Erfahrung und Klassenbewußtsein vermittelnde Schule der DDR gegangen sind, setzen bei anderen oftmals Dinge voraus, die sie gar nicht kennen können. Nicht nur bei den meisten älteren Landsleuten aus dem Westen, die während der gleichen 40 Jahre ohne Unterlaß im „schwarzen Kanal“ der kapitalistischen Medien gebadet wurden und dadurch zwangsläufig ein Zerrbild der DDR-Wirklichkeit verinnerlicht haben, sondern auch bei weitaus Jüngeren und ganz Jungen aus östlichen Breiten.
Wahrheiten, die in der DDR jeder Oberschüler erfuhr, kommen ihnen begreiflicherweise wie böhmische Dörfer vor. Solide politische Bildung ist längst auch zwischen Chemnitz und Rostock zur Mangelware oder gar zum Fremdwort geworden. Die Marxschen Erkenntnisse, daß alle menschliche Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, daß jeder Staat nur als Machtinstrument der jeweils herrschenden Klasse und das Recht als deren zum Gesetz erhobener Wille zu betrachten sind, wurden in der guten alten DDR in jeder Volkshochschule vermittelt. Es handelte sich also keineswegs nur um theoretische Abstraktionen für eine „Parteielite“, sondern um gesellschaftliches Wissen, das sich Millionen Menschen erschloß.
Die inzwischen 20- bis 30jährigen, die heute im Osten lernen oder studieren, arbeiten oder ohne Job dastehen, haben von solchen Grundwahrheiten nie etwas gehört – es sei denn, sie kommen aus Elternhäusern, wo der wissenschaftliche Sozialismus noch eine Heimstatt besitzt.
In Gesprächen mit jungen Leuten auch aus dem eigenen Umfeld habe ich immer wieder feststellen müssen, daß die DDR – der trotz seiner Defizite und des Debakels am Ende beste Staat in der deutschen Geschichte – für sie so lange zurückliegt wie für uns der Große Deutsche Bauernkrieg. Begegnen sie aber aussagefähigen und an Bord gebliebenen Zeugen aus sozialistischen Tagen, empfinden sie die Schilderung des Geschehens nicht selten als regelrechte Offenbarung.
Vom Jahrgang 1932, habe ich ähnliche Er-fahrungen mit Ereignissen vor „meiner Zeit“ sammeln können. Obwohl kurz vor der Machtauslieferung an die Hitlerfaschisten – also noch in der Weimarer Republik – geboren, empfinde ich diese bis heute als eine „relativ weit zurückliegende Etappe“ der deutschen Geschichte, vom 1. Weltkrieg, der erst 14 Jahre zuvor sein Ende gefunden hatte, ganz abgesehen.
Solcherlei sollten wir uns stets vor Augen führen, wenn wir in die Gefahr geraten, der Unwissenheit nachfolgender Generationen mit dem Hochmut von Wissenden zu begegnen. Und noch etwas wäre da zu beachten: Weniger ist oft mehr. Es bringt keinen Nutzen, mit der Fülle eigener Kenntnisse und Erkenntnisse über Jüngere herzufallen. Einfühlsame Schilderungen von Wahrgenommenem, bei denen nicht nur an den Kopf appelliert werden sollte, wecken weit eher Interesse als belehrende Monologe. In einer glitzernden und gleißenden kapitalistischen Kulissenwelt, der gegenüber die schlichte Solidität der DDR scheinbar grau in grau war, ist das durchaus keine leichte Aufgabe. Hinzu kommt die Übermacht alter und neuer Medien, die zum Verzicht auf Tiefgründigkeit und inhaltliche Werte auffordern. Die „gebildete Nation“, wie man die DDR-Bürger – obwohl das keineswegs alle betraf – einst mit gutem Grund nannte, ist längst Vergangenheit.
Dennoch sollte man nicht daran zweifeln, daß uns künftige Generationen darum beneiden werden, den vorerst einzigen ausbeutungsfreien, im Ansatz bereits sozialistischen Abschnitt der deutschen Geschichte selbst erlebt und mitgestaltet zu haben.
Wenn ich in der Endphase meines Lebens dessen Glückssträhnen – von ganz Persönlichem abgesehen – benennen sollte, fiele mir zweierlei ein: In diesem Monat sind es bereits 65 Jahre her, daß ich – gerade 16 – in Westberlin der Partei des solidarischen Händedrucks zwischen dem Kommunisten Wilhelm Pieck und dem Sozialdemokraten Otto Grotewohl beigetreten bin. In all dieser Zeit habe ich die Reihen organisierter Marxisten nie verlassen.
Erwähnen möchte ich auch die Tatsache, daß ich mit der Übersiedlung nach Ostberlin 40 Jahre Bürger der Deutschen Demokratischen Republik sein durfte. Bei deren Gründung im Steinsaal des späteren Hauses der Ministerien war ich unter jenen, welche das historische Ereignis von den Zuschauerplätzen aus verfolgen konnten, mit Sicherheit der Jüngste.
Niemals hätte ich mir in dieser Sternstunde der Geschichte unseres Volkes vorstellen können, daß unter BRD-Ägide ausgerechnet in Karlshorst, wo Hitlers später gehenkter Feldmarschall Keitel im Mai 1945 vor Stalins Heerführer Shukow kapitulieren mußte, einmal staatlich geschützte Plakate der legalen Faschistenpartei NPD zu deren Einzug ins Bundesparlament aufrufen würden. Während die DDR für Deutschland Ehre einlegte, schändet die BRD Tag für Tag dessen Namen. Auch deshalb war die Zerschlagung der DDR die größte Niederlage des Antifaschismus und der Arbeiterbewegung auf deutschem Boden.
Kehren wir zum Ausgangspunkt der Betrachtung zurück. Es gilt Verständnis dafür aufzubringen, daß Jüngere und Heranwachsende völlig anderen Einflüssen ausgesetzt sind und unter mit den unseren absolut unvergleichbaren gesellschaftlichen Bedingungen aufwachsen. Wir haben auf Redliche, denen der konterrevolutionäre Sieg und der Schmerz über eigenes Versagen in kritischer Stunde vorübergehend den klaren Blick nahmen, keine Steine geworfen. So müssen wir auch jenen, die von den uns „heiligen Kühen“ gar nichts wissen können, mit Fairneß und Geduld begegnen. Gut Ding will Weile haben, sagt der Volksmund, was keineswegs mit Tatenlosigkeit gleichzusetzen ist. Prinzipienfestigkeit und Toleranz gehören für uns zusammen.
Als im Herbst 1989 Wankelmütige und Abdriftende das Schicksal von SED und DDR besiegeln halfen, versammelten sich Abend für Abend Tausende vor dem Berliner ZK-Gebäude der Partei. Sie forderten Auskunft und warteten auf ein Hoffnungssignal. Fahnen und Spruchbänder waren in der Menge zu sehen. Für einen Augenblick erfaßte die Fernsehkamera auch das von einem kleinen Jungen emporgehaltene Schild. Auf ihm stand von Kinderhand geschrieben: „Denkt auch an mich!“ Sein Träger war, wie ich dann am Bildschirm erfuhr, mein jüngster Sohn. Der ist inzwischen 33. Sein um 11 Jahre älterer Bruder, der ihn damals geschultert hatte, arbeitet seit etlichen Jahren als Internet-Redakteur bei der „jungen Welt“. Zwei ihrer Geschwister und deren Lebenspartner bekennen in der Linkspartei Farbe. Dieser Tage sagte der Jüngste fast beiläufig zu mir: „Es ist wohl an der Zeit, daß ich mich kommunistisch organisiere.“
So nimmt die Zahl der Nachwachsenden, die uns verstehen und zu uns stoßen, allmählich wieder zu. Tun wir etwas dafür!
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