Über Stille und Trubel am 1. Mai
Wie immer wache ich gegen 7 Uhr auf und gehe ans Fenster meiner im 9. Stock liegenden Wohnung eines Plattenbaues in Berlin-Hellersdorf. Auf der Straße herrscht eine himmlische Ruhe. Kein Mensch ist auf dem gesamten Terrain zu sehen, das ich von meiner Höhe aus überblicken kann. Auch kein Auto fährt vorbei. Aber die Straßenbahn kommt pünktlich. Sie hält, obwohl niemand an der Haltestelle steht. Nur eine Person steigt aus. Ich hasse Lärm und Geschrei. Das zarte Konzert der Vögel und der Geruch von blühendem Flieder umschmeicheln meine Sinne. All das wirkt so stark auf mich ein, daß meine Gedanken nach der Ursache dieser Stille fragen.
Es ist der 1. Mai, ein arbeitsfreier „Tag der Arbeit“!
Und sofort schießen mir Erinnerungsfetzen aus DDR-Zeiten durch den Kopf: Schalmeienklänge dringen an mein Ohr, Marschmusik, Umzüge, ein unüberschaubares Gewimmel fröhlicher Menschen, Fahnen, Transparente, Kinder, die kleine Wimpel schwenken.
Das war bei den Leuten aus Magdeburgs großen Industriebetriebe in Buckau so, bei den Thälmannwerkern, den Marxwerkern, den Dimitroffwerkern, den Liebknechtwerkern, den Weinertwerkern und den Chemiearbeitern von „Fahlberg List“. Im Zentrum der Stadt ging es an der Ehrentribüne vorbei, auf der Vertreter von Stadtverwaltung, Gewerkschaft und Partei sowie ausgezeichnete Werktätige, Aktivisten und Erfinder Platz genommen hatten. Man kannte sich untereinander – die im Marschblock und die auf der Tribüne. Per Lautsprecher und über Megaphone wurden Erfolge in der Produktion wie bei der Planerfüllung einzelner Betriebe genannt. Auch kleine und große Siege in der Kultur, der Bildung und im Gesundheitswesen fanden Erwähnung. Niemand wurde vergessen. Hier war ich ein Jahrzehnt lang mittendrin.
Irgendwo hinter der Tribüne lösten sich dann die Marschblöcke auf, und man widmete sich im Kreise von Kollegen eher leiblichen Genüssen, der Geselligkeit und dem Tanz unter dem Maienbaum. Überall war dazu Gelegenheit. Bierzelte, Würstelbuden, Kaffee und Kuchen.
Einige Betriebe gaben sogar Wertmarken – meist in Höhe von 5 Mark – an ihre Belegschaften aus. Ein kleiner Feiertagszuschlag! Der Westen machte daraus ein „materielles Lockmittel“, um „die Leute überhaupt auf die Straße zu bekommen“.
Wer den 1. Mai in der DDR miterlebt hat, kann über solchen Unsinn nur lachen, ebenso über die Behauptung, Nichtteilnehmer seien wegen Abwesenheit gemaßregelt worden. Das war nichts anderes als eine triviale Verunglimpfung des großen Festes.
Inzwischen ist es 9 Uhr geworden. Ich schaue aus dem Fenster, verspüre fast keine Veränderung, wenn auch im Zentrum der Stadt demonstriert wird. Hier sehe ich ein paar Autos mehr auf der Straße und an der Tramhaltestelle zwei Wartende. Sonst herrscht Menschenleere. Jetzt kommt mir die Stille unheimlich vor, ja, sie macht mir sogar Angst. Ich sehne mich nach dem Trubel von einst zurück!
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