RotFuchs 236 – September 2017

Wissenschaftliche Weltanschauung

Über W. I. Lenins Schrift
„Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“

RotFuchs-Redaktion

Vor vielen Jahren hat der damalige „Deutschlandsender“ (später umbenannt in „Stimme der DDR“) eine auch in Westdeutschland gehörte und beachtete Sende­reihe mit Vorträgen zu Fragen unserer wissenschaftlichen Weltanschauung aus­gestrahlt, deren Manuskripte sich erhalten haben und die wir den Lesern des „RotFuchs“ in einer Auswahl zur Verfügung stellen – inhaltlich wurde nichts verändert, von unumgänglichen Kürzungen abgesehen. Man kann diese Vorträge lesen als Kapitel eines Geschichtsbuchs (dazu auch immer die Angabe des seiner­zeitigen Sendetermins) und zugleich als Einführung in die Grundlagen marxistisch-leninistischen Denkens. Viele auch in den Vorträgen zum Ausdruck kommenden Hoffnungen haben sich mit und nach der Konterrevolution von 1989/90 zerschla­gen, manche Prognosen haben den Praxistest nicht bestanden – wesentliche Erkenntnisse von Marx, Engels, Lenin und anderen unserer Theoretiker aber haben nach wie vor Bestand, an ihnen halten wir (gelegentlich deswegen als Ewiggestrige beschimpft) fest, sie wollen wir – auch mit dieser Serie – vermitteln.

Sendetermin: 14. Februar 1974

Über den Gedanken Lenins von der allgemeinen Rechnungsführung und Kontrolle haben wir bereits früher gesprochen. Der Begriff „Rechnungsführung“ ist natürlich viel älter als die sozialistische Gesellschaftsordnung. Aber im Sozialismus gewinnt er einen ganz neuen Inhalt. Und um diesen neuen Inhalt geht es in der Schrift „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“. Wladimir Iljitsch Lenin hatte es als die ent­scheidende Aufgabe bezeichnet, die Produktion tatsächlich zu vergesellschaften. Besteht nun ein Zusammenhang zwischen dieser Forderung und dem Prinzip der all­gemeinen Rechnungsführung und Kontrolle? Einen solchen Zusammenhang gibt es wirklich.

Die Vergesellschaftung der Produktion beginnt bekanntlich mit der Überführung der wichtigsten Produktionsmittel in Volkseigentum. Zu ihren wesentlichen Bedingungen zählt, daß die Produktion Gegenstand des bewußten, gemeinschaftlichen Handelns der Werktätigen wird.

Jede Produktion aber verlangt eine bestimmte Leitung, Planung und Rechnungsfüh­rung, Im Kapitalismus ist die Produktion der materiellen Güter immer eine Privatan­gelegenheit. Die Rechnungsführung im Rahmen der jeweiligen kapitalistischen Unter­nehmen besorgen die Kapitalisten oder von ihnen beauftragte Personen. Dabei ist das einzige Kriterium der kapitalistische Profit. Leitung, Planung und Rechnungs­führung der einzelnen Unternehmen stimmen, wenn der Profit stimmt.

Im Sozialismus geht es bei der von Lenin geforderten Rechnungsführung und Kon­trolle darum, daß die Werktätigen die Produktionsmittel nicht nur als gesellschaft­liches Eigentum nützen, sondern daß sie auch über ihre eigene Arbeitszeit, die ihnen anvertrauten Ausrüstungen, Maschinen, Rohstoffe und Finanzen genau Rechnung führen. Sie müssen nach Lenin streng darüber wachen und kontrollieren, ob alle diese Mittel möglichst wirksam eingesetzt werden, zur Befriedigung der Bedürfnisse der Werktätiges und entsprechend den Erfordernissen der ganzen sozialistischen Gesellschaft. Sie müssen darauf achten, daß aus jedem Finanzfonds, aus jeder Stunde Arbeitszeit, aus jedem Gramm Material ein möglichst großer Nutzeffekt erzielt wird. Kriterium der Rechnungsführung und Kontrolle unter sozialistischen Bedingungen ist also nicht der private Profit, sondern das gemeinschaftliche Inter­esse.

Dazu kommt noch ein weiteres wichtiges Moment. Bei Strafe des Unterganges im Konkurrenzkampf sind die kapitalistischen Unternehmer einerseits zu einer straffen Organisation der Produktion mit entsprechender Planung und Rechnungsführung gezwungen, ganz gleich ob Einzelbetrieb oder monopolistische Vereinigung; ande­rerseits finden wir Desorganisation und Anarchie im Rahmen der ganzen kapitalis­tischen Volkswirtschaft. Die sozialistische Gesellschaft überwindet diesen Wider­spruch. Dazu gehört, daß Leitung, Planung und Rechnungsführung nicht nur im Rahmen einzelner Betriebe, sondern im Rahmen der ganzen Gesellschaft und im Interesse der ganzen Gesellschaft verwirklicht werden – eine wichtige Seite dessen, was Lenin die tatsächliche Vergesellschaftung der Produktion nannte.

Es bedarf vor allem eines umfassenden Netzes organisatorischer Beziehungen, das es erlaubt, die Produktion immer mehr im Rahmen und im Interesse der ganzen Gesellschaft zu planen. Lenin formulierte im Frühjahr 1918: „Der sozialistische Staat kann nur als Netz von Produktions- und Konsumkommunen entstehen, die ihre Pro­duktion und ihren Konsum gewissenhaft verbuchen, Arbeit einsparen, die Arbeitspro­duktivität unaufhörlich steigern … Ohne die Einführung der strengsten, vom gesamten Volk getragenen allumfassenden Rechnungsführung … kommt man hier nicht aus.“¹

Die Verwirklichung der Leninschen Forderung schloß den Übergang zur sozialisti­schen Planwirtschaft ein. Selbstverständlich konnte es sich 1918 nur um allererste Anfänge handeln, die jedoch höchst bedeutsam waren. Wir wissen, daß auf diese ersten Schritte am Ende des Bürgerkriegs der Goelro-Plan und später die Fünfjahr­pläne folgten, die unter der Führung der Partei Lenins aus der Sowjetunion eine sozialistische Wirtschaftsmacht werden ließen. Dennoch kann man sagen, daß bereits im Frühjahr 1918 der Leninschen Forderung nach Aufbau eines solchen Netzes von Organisationsbeziehungen, das es erlaubt, über die gesamte Produktion des Landes genau Buch zu führen und die Werktätigen dabei zu schöpferischer Mit­arbeit zu erziehen, tatsächlich weltgeschichtliche Bedeutung zukam.

Für die Bolschewiki war bei der Lösung dieser Frage – die ja keineswegs rein organi­satorischer Natur war – entscheidend, wie, mit welchen Methoden die Massen der Arbeiter und Bauern des Landes für die neue Aufgabenstellung aktiviert werden können. Lenin gab sich hinsichtlich der Schwierigkeiten, die dabei überwunden werden mußten, keiner Täuschung hin. „Selbstverständlich“ – so schrieb er – „sind nicht Wochen, sondern lange Monate und Jahre notwendig, damit die neue Gesell­schaftsklasse, und zwar eine Klasse, die bisher unterjocht, durch Not und Unwissen­heit niedergedrückt war, sich in die neue Lage hineinfinden, sich umsehen, ihre Arbeit in Gang bringen und ihre Organisatoren hervorbringen kann … Aber unmöglich ist hier nichts, und wenn wir fest entschlossen sind, sie (die neue Aufgabe) vorzunehmen, wenn wir in der Verfolgung des großen und schwierigen Ziels Ausdauer haben – dann werden wir sie verwirklichen. Organisatorische Talente sind im ,Volke‘ … in Menge vorhanden; sie wurden vom Kapital zu Tausenden zertreten, zugrunde gerichtet und beiseite geworfen; wir verstehen es nur noch nicht, sie zu finden, zu ermutigen, auf eigene Füße zu stellen, aufrücken zu lassen. Wir werden es jedoch lernen, wenn wir uns mit dem ganzen revolutionären Enthusiasmus, ohne den es keine siegreichen Revolutionen gibt, daranmachen, es zu lernen.“²

Lenin wußte 1918 sehr gut, daß dies nur durch beharrliche Arbeit der Partei zu er­reichen ist. Die Erfolge der Sowjetmacht in den Jahren und Jahrzehnten danach sind nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die Bolschewiki diese Aufgabe sehr ernst genommen haben. Hunderttausende befähigte Arbeiter und Bauern wuchsen in jener Zeit zu qualifizierten Leitern heran. W. I. Lenin formulierte in seinem Artikel „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“: „Wir werden … uns bemühen, so vorsichtig und geduldig wie möglich wirkliche Organisatoren zu erproben und ausfindig zu machen, Menschen mit nüchternem Verstand und praktischer Ader, Menschen, die die Treue zum Sozialismus mit der Fähigkeit verbinden, ohne Lärm … eine feste und einmütige Arbeit einer großen Zahl von Menschen im Rahmen der sowjetischen Organisationen zustande zu bringen.“³

Einer der großen Vorzüge der sozialistischen Demokratie besteht ja gerade darin, daß im Sozialismus Millionen Menschen, die im Kapitalismus kaum eine Entwicklungs­chance hatten, unter den neuen Bedingungen die Möglichkeit erhalten, ihre Fähig­keiten voll zu entfalten und ihre Talente, ihre Aktivität bei der Erfüllung der gewalti­gen Aufgaben des sozialistischen Aufbaus unter Beweis zu stellen. Lenin wußte sehr wohl, daß die Realisierung dieser Möglichkeit nicht dem Selbstlauf überlassen sein darf. „Unser Ziel“, schreibt er, „ist die ausnahmslose Heranziehung der armen Bevöl­kerung (Lenin meinte unter den damaligen Bedingungen damit die breiten werktäti­gen Massen) zur praktischen Teilnahme an der Verwaltung, und alle Schritte zur Verwirklichung dieses Ziels … müssen sorgfältig registriert, studiert, systematisiert, durch größere Erfahrungen erprobt und gesetzlich verankert werden.“⁴

Eines der wichtigsten Mittel dazu war für Lenin der sozialistische Wettbewerb. Es ist bemerkenswert, daß er schon so kurze Zeit nach der Oktoberrevolution dem Wettbe­werb eine derartige Bedeutung beimißt. Gerade in ihm erblickt Lenin ein geeignetes Mittel, die Werktätigen zu schöpferischer Aktivität zu wecken, ihre Initiativen auch auf die Rechnungsführung und Kontrolle zu orientieren. Nach seiner Auffassung besteht ein enger Zusammenhang zwischen sozialistischer Demokratie und Wettbe­werb. Mit Hilfe des Wettbewerbs muß die gesellschaftliche Produktion zur Angele­genheit der breiten Masse werden. Dazu gehört nach Lenin, daß er öffentlich geführt, abrechenbar und vergleichbar sein muß, um die Probleme der sozialistischen Pro­duk­tion möglichst vielen Mitgliedern der sozialistischen Gesellschaft als eigene Proble­me nahezubringen.

Große Bedeutung mißt Lenin der Publizierung des Wettbewerbs bei. Er verweist da­rauf, daß die sozialistische Presse sich grundlegend von der bürgerlichen unterschei­det. Über die wirkliche Grundlage des gesellschaftlichen Lebens, die Produktions­sphäre, erfährt der Leser in den für die breite Masse bestimmten bürgerlichen Publi­kationsorganen nur wenig. Nach Lenin müssen die Kommunisten „an der Schaffung einer Presse arbeiten, die die Masse nicht mit politischen Pikanterien und Nichtigkei­ten amüsiert und verdummt, sondern gerade die Fragen des tagtäglichen Wirtschafts­lebens dem Urteil der Masse unterbreitet und dieser hilft, sie ernsthaft zu studieren.“⁵

Sozialistische Demokratie unterscheidet sich ja von formaler bürgerlicher Demokratie nicht zuletzt dadurch, daß die materielle Produktion, auf der alle anderen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens letztlich beruhen, zum Gegenstand der Überlegungen, der Initiativen, der vom gesellschaftlichen Interesse geleiteten Sorge der Menschen wird, durch deren Arbeit sie ja eigentlich erst funktioniert. Wenn Presse, Rundfunk und Fernsehen heute ausführlich über die Aufgabenstellung der Volkswirtschafts­pläne und namentlich über den sozialistischen Wettbewerb in den Betrieben und Produktionszweigen berichten, dann trägt unsere Publizistik entscheidend dazu bei, sozialistische Demokratie zu verwirklichen.

Damit die sozialistische Produktion funktioniert, ist es notwendig, daß möglichst alle Menschen nach einem gemeinsamen Plan möglichst einheitlich handeln. Dieser Wesenszug der sozialistischen Ordnung stand bereits im Frühjahr 1918 im Mittel­punkt der Diskussion. In seiner Schrift „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ hat Lenin folglich auch zu Fragen des sozialistischen Wirtschaftsaufbaus und der Wirt­schaftsführung Stellung genommen. Nach seiner Überzeugung kann die Einheit des Willens in der Produktion nur durch die Einzelleitung gesichert werden. Dieses von Lenin entwickelte Prinzip der staatlichen Einzelleitung auf der Grundlage zentraler Pläne und Weisungen hat sich in der Entwicklung der sozialistischen Volkswirtschaft bewährt. Die Leitung großer Kollektive kann nur dadurch gewährleistet werden, daß sie in den Händen befugter und voll verantwortlicher einzelner Personen liegt. Dabei schließt nach Lenin das Prinzip der Einzelleitung die breite Mitwirkung und Kontrolle der Werktätigen, die kollektive Beratung wesentlicher Fragen ein.

Lenin betont dabei immer wieder die Notwendigkeit einer strengen Arbeitsdisziplin, und er fordert von den Kommunisten in den Produktionsbetrieben, die Entwicklung der Initiative und Aktivität der Werktätigen mit der unbedingten Unterordnung unter den Willen des Leiters während der Arbeit zu verbinden. „Was wir selbst erobert, was wir selbst dekretiert, zum Gesetz gemacht, beraten und festgesetzt haben“, schreibt Lenin, „müssen wir in dauerhaften Formen der täglichen Arbeitsdisziplin verankern. Das ist die schwerste, aber auch die dankbarste Aufgabe, denn nur, wenn wir sie lö­sen, werden wir sozialistische Verhältnisse erhalten ...“⁶ In der Schrift „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ vom Frühjahr 1918 stellte Lenin genau jene Aufgabe in den Mittelpunkt, von deren Erfüllung der weitere Aufbau des Sozialismus abhing. Er verwirklichte damit eine Forderung, die für die internationale Arbeiterbewegung höchst bedeutsam war und ist: Es genüge nicht, schlechthin Revolutionär und Anhän­ger des Sozialismus oder Kommunist überhaupt zu sein. Man müsse es verstehen, in jedem Augenblick jenes besondere Kettenglied zu finden, das mit aller Kraft ange­packt werden muß, um die ganze Kette zu halten und den Übergang zum nächsten Kettenglied mit fester Hand vorzubereiten.⁷

Literaturhinweise

  1. W. I. Lenin: Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht
    In: Werke, Band 27, Seite 245
  2. Ebenda, Seite 252 f.
  3. Ebenda, Seite 253
  4. Ebenda, Seite 264
  5. Ebenda, Seite 251
  6. Ebenda, Seite 262
  7. Vgl. ebenda, Seite 265