RotFuchs 188 – September 2013

Um was geht es in Brasilien?

RotFuchs-Redaktion

Mehr als eine Million Brasilianer haben mit einem anfangs eher spontanen Protest gegen neue willkürliche Tariferhöhungen bei städtischen Verkehrsmitteln binnen Stunden eine Solidaritätswelle ohnegleichen ausgelöst. Diese geballte Kraft zeigte den das größte Land Lateinamerikas Regierenden ihre Grenzen auf. Was am 11. Juni in São Paulo begann, griff fast sofort auch auf Rio de Janeiro und nahezu alle anderen brasilianischen Großstädte über. Dazu hatte nicht zuletzt der äußerst brutale Polizeieinsatz gegen Demonstranten in São Paulo beigetragen. Deren Empörung besaß viele Facetten: Zunächst spielte auch die Verausgabung astronomischer Summen im Vorfeld der 2014 in Brasilien stattfindenden Fußball-Weltmeisterschaften bei anhaltender Drosselung der völlig unzureichenden Mittel für das Gesundheits- und Bildungswesen eine wichtige Rolle. Bald ging es jedoch um Themen aus dem Alltag des brasilianischen Kapitalismus, der sich nicht weniger rabiat als anderswo gebärdet. Zu den ins Zentrum rückenden Aspekten gehörte die grassierende Korruption, von der auch die regierende Partei der Arbeit (PT) nicht verschont ist.

Zunächst bildeten Weiße mit Durchschnittseinkommen das Gros der Demonstranten – also Sektoren der Gesellschaft, welche nicht zu den eigentlichen Stützen der eher auf das Votum der Arbeiter und Menschen anderer Hautfarben orientierten Regierung der Präsidentin Dilma Rousseff gehören. Es dauerte nur Stunden, bis sich die gesamte brasilianische Linke, darunter ihre beiden kommunistischen Parteien, PCB und PC do B, bei den Demonstranten einreihte.

Am 21. Juni fand dann in São Paulo ein Treffen von 76 wichtigen, im weitetesten Sinne linksgerichteten Organisationen und Gewerkschaften statt, an dem sich außer den Kommunisten auch Rousseffs sozialdemokratische, aber sehr heterogene PT, die Zentrale Union der Werktätigen Brasiliens (CUT), der Nationale Studentenverband und die Brasilianische Sozialistische Partei beteiligten. Dort standen Veränderungen in der gesellschaftlichen Struktur Brasiliens – darunter auch Kernforderungen der Demonstranten – auf der Tagesordnung. Von der PCB wurde außer dem Verlangen, endlich eine Bodenreform in die Wege zu leiten und den Landhunger der Besitzlosen zu stillen, auch die Forderung geltend gemacht, ab sofort 10 % des brasilianischen BIP für Zwecke der Volksbildung einzusetzen.

An dieser Stelle erscheint eine Charakterisierung Dilma Rousseffs angebracht. Bei der Präsidentin handelt es sich um eine frühere Guerillakämpferin gegen die im Frühjahr 1964 in Brasilien nach dem Sturz João Goularts von der CIA installierte faschistische Militärdiktatur. Sie war selbst längere Zeit inhaftiert und wurde gefoltert. 2010 zog Dilma als Nachfolgerin des PT-Präsidenten Lula da Silva mit gesteigerter Stimmenzahl für die PT in das höchste Staatsamt Brasiliens ein. Vieles von dem, was sie sich vermutlich vorgenommen hatte, konnte indes nicht umgesetzt werden, zumal die in einander befehdende Flügel zerfallene PT weder in der 513 Sitze zählenden Abgeordnetenkammer noch im 81köpfigen Senat Brasiliens über eine eigene Stimmenmehrheit verfügt, so daß sie äußerst fragwürdige, einen konträren Kurs verfolgende Partner wie die antisozialistische PMDB mit ins Regierungsboot nehmen mußte. Auch der Oberbürgermeister von Rio de Janeiro zählt zu den politischen Gegnern der PT.

Trotz dieser Machtverhältnisse sind in der Amtszeit Lulas und Dilmas mehr als 36 Millionen von 200 Millionen Brasilianern im Rahmen des Programms „Bolsa“ (Familienetat) aus extremster Armut herausgeholt worden. Bis zu den jüngsten Protesten bescheinigten Meinungsumfragen der Präsidentin, daß sie gute Aussichten besitze, 2014 in ihrem Amt bestätigt zu werden. Nach wie vor verfügt sie über eine große Anhängerschaft.

Nicht verschwiegen werden soll, daß auf den fahrenden Zug der gewaltigen Protestdemonstrationen sofort auch Brasiliens Rechte einschließlich faschistischer Organisationen aufgesprungen sind, was die Linkskräfte zu einem taktisch differenzierten Vorgehen veranlaßte.

RF, gestützt auf „People’s World“, New York