Unwiderruflicher Bruch mit
dem Marxismus als System?
Am 10. November berichtete die linksbürgerliche Tageszeitung „neues deutschland“ unter der Schlagzeile „Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaat“ von der bedingungslosen Kapitulation Gregor Gysis vor dem Ansturm professioneller Verleumder der DDR. Anläßlich des 25. Jahrestages des „Mauerfalls“ ließ der PDL-Fraktionsvorsitzende, dessen unbestrittene Eloquenz bisweilen mit Substanz verwechselt wird, die Hüllen fallen. Die DDR sei als ein Staat zu betrachten, „dem die grundlegende demokratische Legitimation fehlte und in dem politische Willkür jederzeit Recht und Gesetzlichkeit ersetzen konnte“, erklärte er. Die Hauptverantwortung für „Fehler und Verbrechen der DDR“ lastete er der 1946 von Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl gegründeten SED an. Gregor Gysi, der während seines Studiums mit Grundlagen der marxistisch-leninistischen Wissenschaft vertraut gemacht worden war, dankte in einer Erklärung, die er auch von den in dieser Materie wohl weniger bewanderten Parteivorsitzenden mit unterzeichnen ließ, ausdrücklich „jenen, die damals die Mauer von Ost nach West zum Einsturz brachten“. Hier kann man nur mit Tucholsky sagen, daß es wohl nichts Schlimmeres gibt, als von dem Kakao auch noch zu trinken, durch den man gezogen wird.
Die „Flexibilität“ des vermutlichen Urhebers dieser Kampfansage an den angeblichen Unrechtsstaat DDR wird besonders transparent, wenn weiß, daß Gregor Gysi noch am 5. November an einen Bedenken äußernden Mitstreiter in seiner Partei das Gegenteil dessen geschrieben hatte, was er am 8. November bekundete: „Sicherlich hast Du mitbekommen, daß ich mich gegen den Begriff Unrechtsstaat gewandt habe.“
Wie glaubwürdig sind Leute, die – unter welchem Druck oder auf wessen Wink auch immer – innerhalb einer halben Woche die Fronten in einer Kernfrage wechseln?
Gysis Erklärung ist ein Faustschlag ins Ge-sicht jener der Sache des Sozialismus treu gebliebenen alten und jüngeren Genossen aus der Partei Die Linke, welche – unter der Last des eigenen rechten Flügels und eines von diesem weitgehend beherrschten Apparats – ihre Prinzipien nicht von Sieg oder Niederlage abhängig gemacht haben. Unser Respekt gilt allen, die im Gedenken an die historischen Errungenschaften der DDR den Gedanken des kompromißlosen Kampfes gegen das kapitalistische System der BRD nicht aufzugeben bereit sind.
Der ideologische Kehraus des PDL-Fraktionsvorsitzenden in Sachen DDR ist – was das Maß der Aufgabe von Prinzipien betrifft – wohl am ehesten mit der bedingungslosen Kapitulation der SPD-Reichstagsfraktion im August 1914 zu vergleichen.
Die Entscheidung von Teilen der PDL-Spitze, zur pauschalen Leugnung der Rolle der DDR in der deutschen Geschichte überzugehen, erinnert mich an die Anfänge des großen Ausverkaufs. Im Dezember 1989 beauftragte mich die Redaktionsleitung des damals sozialistischen ND, bei dem ich bereits seit 1967 tätig gewesen war, mit der teilweisen Berichterstattung über den Sonderparteitag in der Berliner Dynamohalle. Aus ihm ging zunächst die SED-PDS und bald darauf die PDS hervor. Die Atmosphäre, die mich bei dieser Veranstaltung umgab, war spannungsgeladen, die Reden unterschieden sich inhaltlich von früher gehaltenen, und zwar sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht. Während „Protokoll und Etikette“, die bei vorangegangenen Anlässen dieser Art selbständiges Denken arg behindert hatten, jetzt weggefallen waren, fehlte es an klaren politisch-ideologischen Konturen im Sinne einer sozialistischen Partei. Das große Ausschütten des Kindes mit dem Bade war angesagt, sieht man von Reden wie denen Hans Modrows ab.
Während junge Trotzkisten an den Eingängen zur Halle ihre Zeitschrift „Spartakus“ mit der besonders zeitgemäßen Schlagzeile „Für ein rotes Sowjetdeutschland in einem roten Sowjeteuropa“ verteilten, wurde von der Tribüne weniger Rotes verkündet. Die nebulöse Parole hieß: „Endgültiger Bruch mit dem Stalinismus als System“. Noch nahm man Marx und Engels nicht ins Visier, doch Lenins Name fehlte bereits in der Reihe der Vordenker des Sozialismus. Bald wurde bekannt, daß auch bei den Wegbereitern der Partei ein Austausch stattgefunden hatte: Gregor Gysi reihte, mit einem großen Besen fortan „Überflüssiges“ symbolisch hinwegfegend, eine besonders anrüchige Ikone des Revisionismus wie selbstverständlich unter die Väter der im Umbruch befindlichen Partei ein: Eduard Bernstein. Dessen berühmt-berüchtigte Maxime „Das Ziel ist mir gar nichts, die Bewegung alles“ sollte schon bald einen spezifischen Stellenwert in der PDL erlangen.
An diesen 25 Jahre zurückliegenden symbolischen Kehraus wurde ich erinnert, als Gregor Gysi – dem magischen Ziel einer Regierungsbeteiligung nach Thüringer Vorbild und um jeden Preis zustrebend – im Bundestag die weiße Fahne hißte. Dabei handelte es sich um ideologischen Ausverkauf, der offensichtlich darauf abzielt, an der sozialistischen Sache festhaltende und daher in ihren DDR-Biographien weiterhin verwurzelte Genossen endlich aus der Partei zu vertreiben. Inzwischen hat sich der Nebel um die Formel „Unwiderruflicher Bruch mit dem Stalinismus als System“ gelichtet. Jetzt weiß man besser, welcher Bruch wohl schon im Dezember 1989 perspektivisch angedacht war. Damals äußerten Parteitagsdelegierte mir gegenüber die Vermutung, daß die auf DDR-Verhältnisse – zumindest seit 1953 – keineswegs zutreffende Vokabel „Stalinismus“ eigentlich einen anderen Ismus gemeint haben könnte.
Gregor Gysis jüngste Kampfansage an das Vermächtnis des deutschen Friedensstaates DDR, dessen Wirken durch die Lehren von Marx, Engels und Lenin inspiriert wurde, bezweckt inhaltlich eine definitive Absage an den Marxismus als theoretisches Denkgebäude und Anleitung zum praktischen Handeln all jener Kräfte in der Welt, die tatsächlich sozialistische Ziele verfolgen.
Mag dieser neue Kehraus auch den Boden für die Aufnahme in eine künftige Koalitionsregierung mit der SPD und den Grünen auf Bundesebene bereiten – er wird bei allen am Marxismus Festhaltenden auf entschiedene Gegenwehr stoßen.
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