Von Menschen, die den Fischen nachreisen
Unwissenheit ist ein Herrschaftsinstrument
Mehr als sechzig Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. In den Metropolen des Kapitals, Berlin inklusive, wird gefordert, man müsse die Fluchtursachen bekämpfen. Und zieht Zäune, um die Besitzstände vor den Flüchtlingen zu sichern. Gekämpft wird auch. Aber nicht gegen die Ursachen. Denn diese sind von eben diesen Pharisäern verschuldet. Ohne die Waffen aus den Industriestaaten würde es keine andauernden Kriege und bewaffneten Konflikte geben, ohne rücksichtslose Plünderung der Ressourcen keine Notstände, ohne die als Entwicklungshilfe verschleierte Unterstützung korrupter Regime keine Ausbeutung und Unterdrückung ganzer Völker, ohne Abschottung der Märkte des reichen Nordens keine Perspektivlosigkeit für die nationale Wirtschaften im Süden … Mit einem Wort: Um die Fluchtursachen erfolgreich zu bekämpfen, müßte sich der Kapitalismus selbst abschaffen, denn er ist die Wurzel allen Übels. Das aber wird er freiwillig nicht tun.
Ohne es so deutlich zu sagen, werden diese Zusammenhänge in einem ungewöhnlichen Buch bewußtgemacht. Recherchiert und geschrieben hat es eine Bürgerrechtlerin und Menschenrechtsaktivistin aus Kampala. Winnie Adukule vom Volk der Lugbara, das im Nordwesten Ugandas lebt, hat in ihrer Heimat und in den USA Jura studiert und eine Zeitlang im Antikorruptionsausschuß der UNO gearbeitet. Jetzt führt die 39jährige eine Kanzlei im Stadtteil Kololo in der ugandischen Hauptstadt. Ihr Augenmerk gilt dort den Kindern, den heimat- und obdachlosen, den verstoßenen und den zu Unrecht juristisch verfolgten. Aktuell ist Adukule dabei, gemeinsam mit Freunden aus Norddeutschland ein Heim für etwa sechzig Straßenkinder aufzubauen. Sie sollen dort lernen, beruflich ausgebildet und aufs Leben vorbereitet werden.
Die Entscheidung für ein solches Projekt ist dem Wissen geschuldet, daß ein Großteil der Zuwendungen von Hilfsorganisationen in den weitverzweigten Kanälen der Verwaltungen – sowohl der Organisationen selbst wie auch in der staatlichen Bürokratie – verschwindet. Das gilt auch für die internationalen „Entwicklungshilfen“. Damit wird in Uganda wie in anderen Staaten der Haushalt gestreckt und die nationale Bourgeoisie ausgehalten: Sie sorgt schließlich dafür, daß alles so bleibt, wie es ist, und das Land von ausländischen „Investoren“ ungestört weiter ausgeplündert werden kann. Projekte wie dieses Heim, organisiert von schwarzen und weißen Idealisten, sind eine Reaktion auf die in Jahrzehnten gewachsenen Strukturen des etablierten Neokolonialismus. Es ist Hilfe zur Selbsthilfe, die direkt und ohne Umwege geleistet wird. Der Verein „Freechild Uganda e. V.“ sammelt Sach- und Geldspenden, und Freiwillige gehen eine Zeitlang als Lehrer, als Handwerker, als Ausbilder nach Kampala in das dortige Heim.
Winfred „Winnie“ Adukule und ihre Mitstreiter sind sich bewußt, daß sie Symptome bekämpfen, nicht die Ursachen des Übels. Aber irgendwo und irgendwie muß man beginnen, die Gesellschaft zu verändern. Zumal es in Uganda keine organisierte politische Kraft gibt, die sich einen wirklichen Umbruch auf die Fahnen geschrieben hat. Die Parteien, die es zu Dutzenden gibt, sind Wahlvereine mit Häuptlingen, die allen alles versprechen und doch nur an die eigene Wohlfahrt denken. Seit 30 Jahren herrscht Präsident Museveni, er wurde erst im Februar für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt.
In ihrem Buch berichtet Winnie Adukule von Gesprächen mit vielen Menschen im Land – vornehmlich mit jungen Leuten, die nach Europa wollen, weil sie hinter dem Mittelmeer den Garten Eden wähnen, denn solches verheißen die Werbung und die Bilder auf Facebook, die ihnen Freunde von dort schicken zum Beweis, wie erfolgreich sie dort angeblich sind. In Uganda sehen sie für sich keine Zukunft: keine Arbeit, keine Wirtschaft, keine Infrastruktur, nicht eine einzige Bahnverbindung existiert.
Die großgewachsene, intelligente und selbstbewußte Autorin interviewte aber auch Menschen, die enttäuscht und mit der Einsicht aus dem Norden zurückkehrten, daß sie die dort Lebenden nicht noch reicher machen, sondern sich besser für die Entwicklung Ugandas engagieren sollten. Zu Adukulus Gesprächspartnern gehörten ebenso Flüchtlinge – Uganda hat aus den Nachbarstaaten, in denen blutige Bürgerkriege toben, etwa anderthalb Millionen Menschen aufgenommen. Sie suchte Flüchtlingssiedlungen auf, sprach mit Vertretern von Hilfsorganisationen und auch mit Diplomaten aus Europa. So entsteht aus vielen Puzzlesteinen ein sehr detailliertes Bild.
Wir erfahren viel Unbekanntes über die gesellschaftlichen Zustände und über erschütternde Schicksale, über das Denken und die Motive der Menschen, über die Gründe, warum sie nicht nur aus ihrem Land, sondern gleich aus Afrika wegwollen. Erschreckend die Naivität und das Unwissen der potentiellen Wirtschaftsflüchtlinge und deren Angehörige über das, was sie erwartet.
Bemerkenswert aber sind vor allem die Stimmen von Rückkehrern. Sie haben einen Erfahrungsvorsprung. Sie haben nicht nur über den Tellerrand geschaut, sondern auch Wissen akkumuliert, mit dem sie nüchtern und selbstkritisch die Lage analysieren. Daß diese so ist, wie sie ist, halten sie sich und ihren Landsleuten vor. Es habe sich durch die Alimentierung durch die alten und neuen Kolonialmächte eine lethargische Nehmer-Mentalität entwickelt. Statt ihr Geschick in die eigenen Hände zu nehmen, halten sie diese nur auf und warten auf die Brosamen. Sie kennen nichts anderes. Doch ihre Unwissenheit ist nicht selbstverschuldet, sondern in dieser werden sie bewußt gehalten. Dummheit ist ein Herrschaftsinstrument der Reichen. Im Buch wird Isaac Senyonga zitiert, der meint, daß wohl drei Generationen nötig seien, um hier einen notwendigen kulturellen Bruch zu vollziehen. Das A und O sei dabei Bildung, Bildung, Bildung.
Im Victoriasee, den sich Uganda mit Kenia und Tansania teilt, wurde der Victoriabarsch ausgesetzt, weil das weiße, schmackhafte Fleisch in Europa sehr begehrt ist. Nach Kaffee ist der Fisch das zweitwichtigste Exportgut Ugandas. Der Barsch frißt sich durch den See und hat inzwischen nahezu alle anderen Arten, von denen die einheimischen Fischer lebten, ausgerottet. Die Fischfabriken rund um den See gehören indischen oder chinesischen Kapitalisten, die wie überall im Land das Erbe der britischen Kolonialherren angetreten haben und sie an Arroganz und Kaltschnäuzigkeit oft noch übertreffen. Sie verdienen durch den Export Millionen, die Fischerdörfer hingegen verarmen und veröden. Die Menschen reisen den Fischen nach, die täglich nach Deutschland geflogen werden.
Das alles und noch viel mehr erfährt man aus dem informativen, ehrlichen Buch Winnie Adukules. Es ist geschrieben von einer Beteiligten und Betroffenen, einer Repräsentantin des neuen Afrika.
Winnie Adukule:
Flucht
Was Afrikaner außer Landes treibt
Mit Fotos von Frank und Fritz Schumann
Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2016
240 Seiten
14,99 €
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