RotFuchs 212 – September 2015

Varoufakis: Man hätte ebensogut
die schwedische Nationalhymne
singen können

RotFuchs-Redaktion

Der im Juli zurückgetretene erste Finanzminister der griechischen Tsipras-Regierung gewährte kurz vor der Verhängung des deutsch-europäischen Brüsseler Diktats über Athen dem Journalisten Harry Lambert von der britischen Zeitschrift „New Statesman“ ein Interview. Wir veröffentlichen wesentliche Auszüge.

HL: Wie fühlen Sie sich jetzt?

YV: … Ich bin erleichtert, daß ich nicht länger diesen unglaublichen Druck aufrechterhalten muß, um über eine Position zu verhandeln, die zu verteidigen ich schwierig fände, selbst wenn es mir gelänge, die andere Seite zum Nachgeben zu zwingen.

… Wenn die „gegebenen Mächte“ … direkt zu einem sprechen, und es ist, wie man es befürchtet hat – diese Lage war schlimmer, als man sie sich vorgestellt hat! Also das war kein Spaß, einen Sitz in der ersten Reihe zu haben.

HL: Worauf beziehen Sie sich?

YV: Das völlige Fehlen diplomatischer Skrupel auf seiten der vermeintlichen Verteidiger der europäischen Demokratie. ... Wenn sehr mächtige Personen einem in die Augen schauen und sagen, „Sie haben recht mit dem, was Sie sagen, aber wir werden Euch dennoch zerquetschen“ …

Es gab schlicht eine völlige Weigerung, wirtschaftlich zu argumentieren. Völlig … Man bringt ein Argument vor, an dem man wirklich gearbeitet hat, und schaut dann in leere Gesichter. Es ist, als hätte man nichts gesagt. Was man sagt, ist unabhängig von dem, was sie sagen. Man hätte ebensogut die schwedische Nationalhymne singen können …

… Aber Schäuble war durchweg stimmig. Seine Sicht war: „Ich diskutiere das Programm nicht – es wurde von der vorhergehenden Regierung akzeptiert, und wir können es unmöglich erlauben, daß Wahlen irgend etwas ändern.“

… Also an diesem Punkt mußte ich aufstehen und sagen: „Nun, vielleicht sollten wir einfach in den Schuldnerländern keine Wahlen mehr abhalten.“ Und da gab es keine Antwort. Die einzige Deutung, die ich geben kann, ist, „Ja, das wäre eine gute Idee, aber schwierig umzusetzen. Also entweder Sie unterschreiben auf der gepunkteten Linie, oder Sie sind raus.“

… Sowohl der Leiter der Eurogruppe wie Dr. Schäuble war sehr deutlich. An einem Punkt wurde mir einstimmig gesagt: „Das ist ein Pferd, und entweder Sie steigen jetzt auf, oder es ist tot.“

HL: Wann war das genau?

YV: Am Anfang, gleich zu Beginn. (Die erste Begegnung fand Anfang Februar statt – d. Red.)

HL: Warum dann weiter herumtun bis in den Sommer?

YV: Nun, man hat keine Alternative. Unsere Regierung wurde mit dem Mandat, zu verhandeln, gewählt. Also war unser erster Auftrag, Raum und Zeit zu schaffen, um eine Verhandlung durchzuführen und zu einer anderen Übereinkunft zu kommen. … Unser Auftrag war, zu verhandeln, nicht, uns mit unseren Gläubigern zu prügeln …

Die Verhandlungen brauchten ewig, weil die andere Seite sich weigerte, zu verhandeln. Sie bestanden auf einer „umfassenden Übereinkunft“, was heißt, sie wollten über alles reden. Meine Deutung ist, wenn man über alles reden will, dann will man über nichts reden. Aber wir haben mitgespielt.

… Es gab überhaupt keine Positionen, zu gar nichts, die sie vorbrachten. …

… Die zweite Phase war, als sie uns fragten, was wir mit der Mehrwertsteuer tun wollten. Dann würden sie unseren Vorschlag ablehnen, aber nicht mit einem eigenen kommen. Und dann, ehe wir eine Chance hatten, mit ihnen bezüglich der Mehrwertsteuer übereinzukommen, würden sie zu einem anderen Thema übergehen, wie der Privatisierung. Sie würden fragen, was wir bezüglich der Privatisierung vorhätten, wir sagen etwas, sie weisen es zurück. Dann gehen sie weiter zu einem anderen Thema, wie den Renten, von da zum Markt für Produkte, von dort zu den Arbeitsverhältnissen, dann zu allerlei anderem Zeug. Also war das wie eine Katze, die ihren eigenen Schwanz jagt.

Wir fühlten, daß wir diesen Prozeß nicht abbrechen konnten. Schauen Sie, mein Vorschlag von Anfang an war dieser: Unser Land ist schon vor langer Zeit auf Grund gelaufen … Sicher müssen wir es reformieren – darüber waren wir uns einig. Weil Zeit bedeutend ist, und weil die Zentralbank während der Verhandlungen Druck auf die Liquidität der griechischen Banken ausübte, um uns damit unter Druck zu setzen, war mein ständiger Vorschlag an die Troika sehr einfach: Kommen wir bei drei oder vier wichtigen Reformen überein, zu denen wir uns verständigen können, wie dem Steuersystem, der Mehrwertsteuer, und setzen die sofort um. Sie aber nehmen die Liquiditätsbeschränkungen der Europäischen Zentralbank zurück.

… Und sie sagten: „Nein, nein, nein, das muß eine umfassende Überprüfung sein. Nichts wird umgesetzt, wenn Sie es wagen, irgendwelche Gesetze auf den Weg zu bringen. Das wird als einseitige Handlung betrachtet werden, die sich feindselig gegen den Prozeß richtet, zu einer Übereinkunft zu kommen.“ Und dann, einige Monate später, plaudern sie den Medien gegenüber aus, daß wir das Land nicht reformiert hätten und Zeit vergeuden würden! So … wurden wir in eine Falle gelockt.

Zu einem Zeitpunkt, als die Liquidität fast völlig verschwand, und wir bankrott oder fast bankrott waren, da brachten sie ihre Vorschläge ein, die völlig unmöglich waren … absolut nicht gangbar und giftig …

HL: Was ist das größte Problem mit der Funktionsweise der Eurogruppe?

YV: … Es gab einen Augenblick, als der Präsident der Eurogruppe beschloß, gegen uns vorzugehen, uns tatsächlich ausschloß, und es bekanntmachte, daß Griechenland eigentlich auf dem Weg aus der Eurozone sei … Er sagte, „Ich bin sicher, daß ich das tun kann.“ … Irgendwann sprach mich dann ein Rechtsexperte an: „Die Eurogruppe gibt es juristisch gar nicht, es gibt keinen Vertrag, der diese Gruppe einberufen hat.“ …

Wir haben also eine nicht existierende Gruppe, welche die größte Macht besitzt, das Leben der Europäer zu bestimmen. Sie ist niemandem Rechenschaft schuldig, da sie juri-stisch ja gar nicht existiert …

HL: Und diese Gruppe wird von der deutschen Haltung beherrscht?

YV: Ja, völlig und absolut. Nicht von Haltungen – vom deutschen Finanzminister. Es ist alles wie ein gut gestimmtes Orchester, und er ist der Dirigent. … Es gibt Momente, in denen das Orchester verstimmt ist, aber er holt es zusammen und bringt es zurück auf Linie.

… Unsere Eurozone ist ein sehr feindseliger Ort für anständige Menschen. …