RotFuchs 224 – September 2016

Vereinigte Staaten von Europa?

Prof. Dr. Horst Schneider

Vor 70 Jahren, am 19. September 1946, hielt Winston Churchill jene berühmte Rede, die die Idee der „europäischen“ Einigung in die politische Praxis einführte. Die Idee war nicht neu und hatte eine lange Geschichte. Wladimir Iljitsch Lenin und Rosa Luxemburg hatten schon während des ersten Weltkrieges nachgewiesen, daß ein solches „vereinigtes Europa“ reaktionär sein würde oder nicht zustande käme.

Nach dem Kriegsende 1945 verbanden sich in London, Paris und Bonn höchst unterschiedliche Ziele und Interessen mit dem „einigen“ Europa. Der antifaschistische Widerstandskämpfer und Theologe Helmut Gollwitzer erklärte 1964: „Alle Großstaaten entwickeln bestimmte, von ihren Interessen diktierte europäische Konzeptionen.“ Jedes „Europa“-Bild zeige nationale Färbungen. Das betraf die Politik Adenauers in besonderem Maße. Zu den ersten Schritten auf dem „europäischen“ Wege gehörte der Vertrag von Dünkirchen vom 4. März 1947 und der Brüsseler Fünfmächtepakt (Westunion) vom 17. März 1948, den England und Frankreich mit den Benelux-Staaten abschlossen. Bemerkenswert war, daß die Verträge eine neue deutsche Aggression verhindern sollten. Diese Begründung wählte auch noch der erste Generalsekretär der NATO, Lord Ismay. Nach den Worten Ismays sollten die USA „drin“, die UdSSR „draußen“ und Deutschland „unten“ (keep down) bleiben. Diese Ausgangsbedingungen bestimmten die Außenpolitik Adenauers, der 1964 in seinen Erinnerungen rückblickend erklärte: „Das Wichtigste war, unser Land nach seiner völligen Niederlage und seinem Zusammenbruch aus der Isolierung herauszuführen. Ich mußte alles versuchen, unsere Gegner aus dem Zweiten Weltkrieg zu Verbündeten und zu Freunden zu gewinnen. Das erforderte ein sehr vorsichtiges psychologisches Vorgehen. Mein Hauptanliegen war, Deutschland als gleichberechtigten Staat in die Völkergemeinschaft zurückzuführen und die Eingliederung Deutschlands in die freie Welt zu erreichen.“

Mit der „Westbindung“ auf antisowjetischer Grundlage, differenzierter „Versöhnungs“-Politik und ökonomischer Stärke erlangte die BRD hinter der Nebelwand der „europäischen Einigung“ eine Stärke und Stellung, die ihr jene Politik erlaubte, die Helmut Kohl als Komplize der USA 1989/90 betrieb. Mitterrand, Thatcher und Andreotti leisteten anfangs noch hinhaltenden Widerstand gegen die Machtausdehnung des deutschen Imperialismus. Als Gorbatschow die „Osterweiterung“ des deutschen Imperialismus akzeptierte und nicht einmal der NATO-Ausdehnung nach Osten einen wirksamen Riegel vorschob, gab auch London seinen Widerstand auf. Lord Ismays Hoffnung, Deutschland werde „down“ gehalten, hatte sich nicht erfüllt. Für England mit seiner Empire-Tradition entstand nach 1990 eine neue Lage. ln den Jahrzehnten zuvor hatte es sowohl unter den Konservativen als auch in der Labour Party heftige Auseinandersetzungen um ihre Stellung zu „Europa“ gegeben. Erst 1975 erfolgte der Beitritt Großbritanniens zur EWG, nachdem es Sonderbestimmungen durchgesetzt hatte, die Angela Merkel heute „Rosinen“ nennt.

Der Volksentscheid über den Austritt Englands aus der europäischen Gemeinschaft machte mit 52 % für und 48 % gegen den Brexit sichtbar, daß das Land gespalten ist. In Schottland sind die Kräfte stärker geworden, die über ein Referendum für die Unabhängigkeit in die EU zurückkehren wollen. Mit Sicherheit ist der Brexit ein tiefer Einschnitt in der Geschichte Europas, für England der tiefste Einschnitt seit 1945, der ein „Weiter so“ nicht zuläßt. Führende PDL-Politiker erklärten: „Mit dem heutigen Tag ist der Kampf um eine neue soziale und politische Idee für ein Europa des Friedens und der Weltoffenheit neu entbrannt.“ Vielleicht können Lenins und Luxemburgs Ratschläge bei diesem Kampf helfen.