Warum der Castro-Führungsstil Schule machen sollte
Vertrauen gegen Vertrauen
Für den Erfolg sozialistischer Politik ist Vertrauen genauso wichtig wie in der Pädagogik, der ich mein Berufsleben gewidmet hatte. Ohne gegenseitiges Vertrauen kann man keine Bereitschaft zu aktiver Mitwirkung erwarten. Selbst in den Jahren des Widerstandes gegen den Hitlerfaschismus ging es trotz aller Risiken für die daran Beteiligten nicht ohne Vertrauen. Unmittelbar nach dem Krieg war dieses der wichtigste Schlüssel, um große Teile der jungen Generation für den Aufbau eines neuen Staates zu gewinnen. Die SED setzte dabei Vertrauen in Menschen, die in der Mehrzahl durch das faschistische Regime und dessen Ideologie indoktriniert worden waren. Sie haben das Vertrauen gerechtfertigt und aktiv am Aufbau der DDR mitgewirkt.
Vertrauen hängt mit rückhaltloser Offenheit zusammen. Das Verschweigen auftretender Probleme sowie das Unter-den-Teppich-Kehren von Schwierigkeiten bei einseitiger Darstellung von Erfolgen führt zu schwerwiegendem Glaubwürdigkeitsverlust. Souveräner Umgang mit Konfliktsituationen war in der DDR lange Zeit Verhaltensnorm. Dabei hatten wir es mit einer besonders komplizierten Situation zu tun: Wir mußten den Sozialismus bei offener Grenze aufbauen. Hinzu kam die gemeinsame Sprache, die dem aggressivsten europäischen NATO-Staat zusätzliche Möglichkeiten der Einwirkung eröffnete. Unsere Mängel und Defizite wurden durch die Medien der BRD schonungslos ausgenutzt und maßlos aufgeblasen. Ging bei uns etwas schief, machte man das unverzüglich zum Thema. Leider gebrach es der DDR-Führung später immer mehr an echter Diskussionsbereitschaft über offenkundige Mängel. Die fehlende Weiterentwicklung der sozialistischen Demokratie und die Abkoppelung der Parteispitze von der eigenen Basis wie der Bevölkerung insgesamt trugen wesentlich zum Fiasko der sozialistischen Staaten in Europa bei.
Die Warnung Lenins wurde in den Wind geschlagen: „Alle revolutionären Parteien, die bisher zugrunde gegangen sind, gingen daran zugrunde, daß sie überheblich wurden und nicht zu sehen vermochten, worin ihre Kraft bestand, daß sie fürchteten, von ihren Schwächen zu sprechen.“
Wie entscheidend diese Aussage ist, hat Kuba bei weitaus ungünstigeren ökonomischen Bedingungen unter Beweis gestellt. Zu Fidel Castros Führungsstil – und Raúl setzt diese Praxis fort – gehörte es, gerade in schwierigsten Situationen offen über unvermeidliche Einschränkungen und Belastungen zu sprechen, den Bürgern nichts vorzumachen und um deren Zustimmung auch für unpopuläre Schritte zu werben. Die Castro-Führung bewahrte gerade wegen dieser selbstkritischen Offenheit ihre Autorität bei den Kommunisten und der großen Mehrheit der Kubaner.
Bewußte Disziplin und gedankenlose Unterordnung sind zwei völlig verschiedene Dinge. Sicher ist es nicht immer möglich, in einer zugespitzten Kampf-situation das hehre humanistische Anliegen hundertprozentig im Auge zu behalten. Bisweilen ist im politischen Kampf auch Härte notwendig, um überhaupt bestehen zu können. Doch die Parteidisziplin darf niemals zum Selbstzweck werden, das Vertrauensverhältnis zwischen Führenden und Geführten muß in jeder Situation gewahrt bleiben.
In der UdSSR wie in der DDR und den anderen sozialistischen Staaten Europas führte die vom Parteiapparat erzwungene, oftmals eher mechanische als bewußte Disziplin zur Lähmung von Mitwirkungsbereitschaft, Eigenverantwortung und Entscheidungsfreude. Sie erstickte geradezu die Fähigkeit zu eigenem Handeln. „Unten“ gewöhnte man sich daran, Anweisungen von „oben“ als Hauptimpuls zu empfinden. So löste sich die Führung immer stärker von ihrer Basis. Als sie schließlich versagte und von ihr nichts mehr kam, war auch die Mitgliedschaft handlungsunfähig.
Diese Art von Parteidisziplin verhinderte die rechtzeitige Ablösung solcher Führungskräfte, die ihren Aufgaben aus unterschiedlichen Gründen nicht oder nicht mehr gewachsen waren. In der KPdSU durchschaute Jegor Ligatschow zwar zeitig den in die Katastrophe führenden Kurs Gorbatschows, unternahm aber nichts, um ihn und seine Anhänger im Politbüro aus dem Sattel zu heben. Ob Ligatschows Einfluß als damaliger „zweiter Mann“ dafür ausgereicht hätte, steht auf einem anderen Blatt.
In der DDR ging diese Art von Parteidisziplin so weit, daß nach dem 4. Dezember 1989 sämtliche Betriebsparteiorganisationen widerspruchslos der verhängnisvollen, ja verräterischen Anordnung einer neuen Führung zur Selbstauflösung folgten.
In der marxistischen Theorie gilt der Kampf der Gegensätze als Triebkraft der Entwicklung. Das ist nicht nur auf Klassenantagonismen bezogen. Wir haben diese Theorie zwar gelernt und gelehrt, aber immer weniger danach gehandelt.
Proletarischer Internationalismus bildet den Grundpfeiler des weltweiten Klassenkampfes der Marxisten. In der Praxis dominierte leider oftmals nicht – wie von der Theorie gefordert – die brüderliche und gleichberechtigte Zusammenarbeit der Staaten und Parteien. Die KPdSU als die stärkste, erfahrenste und daher führende Kraft in RGW und Warschauer Vertrag berücksichtigte immer weniger die differenzierten Bedingungen und Potenzen beim Aufbau der jeweiligen Bruderländer und forderte statt dessen die bedingungslose Befolgung ihrer „Ratschläge“. Das schwächte sowohl die Gesamtentwicklung als auch die UdSSR selbst, zumal Lenins Forderung nach ständiger Analyse der konkreten Situation dabei außer acht blieb. Auch im SED-Politbüro beriet man oftmals nach vorgegebenen Mustern, statt kritische Debatten um inhaltliche Fragen zu führen. Innovativer Gedankenaustausch mit Wissenschaftlern und anderen Fachleuten, der unter Walter Ulbricht die Regel war, fand nach dem VIII. Parteitag nur noch selten statt.
Die KPdSU hatte sich verhängnisvollerweise auf das NATO-Langzeitprogramm zum Totrüsten der UdSSR eingelassen. Zweifellos besaß die Wahrung des strategischen und militärischen Kräftegleichgewichts absoluten Vorrang. Doch welchen Sinn machte die auf beiden Seiten erlangte Fähigkeit zur gleich mehrfachen Vernichtung der Welt? Dringend benötigte Ressourcen wurden so der zivilen Entwicklung entzogen.
Trotz ihres enorm geschwächten Zustandes in den 80er Jahren sollte man nicht verkennen, daß die UdSSR auch zu diesem Zeitpunkt noch weitaus besser dastand als 1945 und in den ersten Nachkriegsjahren. Um so schwerer wiegt der von der eigenen Führung an ihr begangene Verrat.
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