Vom Aufbau und der Zerstörung
eines beispielhaften Bildungswesens
Wenige Tage vor der letzten Volkskammerwahl im März 1990 besuchte der damalige Kultusminister von Nord-rhein-Westfalen, Hans Schwier, in Begleitung einiger hoher Bildungsbeamter das von mir geleitete Zentralinstitut für Weiterbildung der Lehrer und Erzieher in Ludwigsfelde bei Potsdam. Er wolle sich einen eigenen Eindruck von den Leistungen und Problemen des Bildungswesens der DDR verschaffen, über das man so Widersprüchliches zu lesen und zu hören bekomme, erklärte er.
Im Ergebnis seiner Visite fand der Minister anerkennende Worte über die sehr praxisnahe Aus- und Weiterbildung der Pädagogen und sprach sich für die Beibehaltung des polytechnischen Charakters der Schule sowie der Pflicht zur Weiter- und Fortbildung aller Pädagogen aus. Auch das ihm bisher unbekannte Fachberater-System habe ihm imponiert, da offensichtlich weniger erfahrene Lehrkräfte von den Kenntnissen ihrer erfahrenen Kollegen profitierten. Die am Institut alljährlich veranstalteten „Zentralen Tage der pädagogischen Lesungen“, bei denen es um die gezielte Vermittlung von Erfahrungen in Theorie und Praxis ging, seien offenbar eine besonders wirksame Methode zur Vervollkommnung des pädagogischen Könnens der Lehrer und Erzieher.
Margot Honecker und
Prof. Dr. Ernst-Joachim Gießmann
mit Gästen und leitenden Mitarbeitern
der Pädagogischen Hochschule
„Dr. Theodor Neubauer“ Erfurt
nach deren Gründung
am 6. September 1969
Im Februar 1990 nahmen erstmalig auch westdeutsche Kollegen daran teil. Vor dem Hintergrund ihrer sehr kritischen Beurteilung des BRD-Bildungswesens und der immer wieder erlebten „Reformunwilligkeit“ seitens der Bundesregierung zeigten sie eine aufgeschlossene Haltung gegenüber der in der DDR praktizierten Bildungspolitik. Das hinderte sie jedoch nicht daran, sich kritisch zum Staatsbürgerkunde- und Geschichtsunterricht, zu Elementen der vormilitärischen Ausbildung und zur Übernahme von Riten der Pionierorganisation und der FDJ in den Schulalltag zu äußern.
Wer jedoch objektiv die Bildungssysteme der BRD und der DDR miteinander verglich, kam bald zu der Erkenntnis, daß auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone bereits 1946 die Weichen für den Aufbau einer neuen Schule gestellt wurden. Das „Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule“ war für einige Jahre die entscheidende Grundlage für die antifaschistisch-demokratische Erziehung der Schuljugend. Mit der Einführung der 8-klassigen Einheitsschule für alle sowie der anschließenden vierjährigen Oberschule bzw. einer zumeist dreijährigen Berufsausbildung konnte das Bildungsprivileg gebrochen und beseitigt werden. Priorität hatte die Schließung der 4114 einklassigen Landschulen und die Einrichtung modern ausgestatteter Zentralschulen, um allen Kindern gleiche Bildungschancen zu eröffnen.
Schulpolitische Leitsätze wie Staatlichkeit, Weltlichkeit, Einheitlichkeit und Wissenschaftlichkeit des Unterrichts wurden Schritt für Schritt, aber konsequent durchgesetzt.
Als Erziehungsziel galten „selbständig denkende und verantwortungsbewußt handelnde Menschen, die fähig und bereit sind, sich voll in den Dienst der Gemeinschaft des Volkes zu stellen“. Solche Ziele waren mit der dem Naziregime verpflichteten Lehrerschaft nicht zu erreichen. (70 bis 90 Prozent waren Mitglieder der NSDAP gewesen.) Es bedurfte also der raschen Ausbildung neuer Lehrkräfte, die aus allen Schichten, vor allem aber aus der Arbeiterklasse gewonnen und in Fern- oder Hochschulkursen ihre Lehrbefähigung vervollständigten. Zugleich nahmen an Universitäten ausgebildete Pädagogen ihre Tätigkeit auf. In den 60er und 70er Jahren bekamen die Pädagogischen Institute selbst den Status von Hochschulen, an denen man während eines vier-, teilweise fünfjährigen Studiums Fachlehrer für zwei Unterrichtsfächer werden konnte. Zugleich wurde den neuen Pädagogischen Hochschulen das Promotions- und Habilitationsrecht zugesprochen. Die Minister für Volksbildung, Margot Honecker, und für das Hoch- und Fachschulwesen, Prof. Dr. Ernst-Joachim Gießmann, haben diese Prozesse zielstrebig begleitet.
Mit der gesellschaftlichen Entwicklung wurde es notwendig, eine höhere Bildung aller Heranwachsenden anzustreben. Der Übergang zur zehnklassigen Polytechnischen Oberschule unter Betonung der Naturwissenschaften begann bereits Ende der 50er Jahre und wurde im sozialistischen Schulgesetz von 1965 verankert. Darauf baute eine 2- bis 3jährige Erweiterte Oberschule auf, z. T. mit gleichzeitiger Facharbeiterqualifikation.
Die in der DDR vorherrschenden pädagogischen Grundsätze und schulpolitischen Entscheidungen wurden von der SED, den Blockparteien und gesellschaftlichen Organisationen getragen und basierten auf Erfahrungen und Erkenntnissen von Lehrern, Eltern und namhaften Persönlichkeiten des jungen Staates. Nicht zuletzt deshalb wurde das Bildungswesen der DDR im In- und Ausland hoch geschätzt.
Auch in der alten BRD hat man neue Bildungsgesetze verabschiedet. Diese entsprachen jedoch kaum den gesellschaftlichen Erfordernissen. Dort konnten in den Nachkriegsjahren Zehntausende ehemalige Mitglieder der NSDAP ihre Tätigkeit als verbeamtete Lehrer wieder aufnehmen.
Nach der Vereinnahmung unseres Staates durch die BRD kam es sehr schnell zur Reaktivierung überwundener rückständiger Bildungspraktiken in der früheren DDR. Immer deutlicher wurde, daß es auch im Bildungsbereich um keine „Vereinigung“, sondern um den bloßen Anschluß und die Übernahme reaktionärer Inhalte ging. Politiker aus den alten Bundesländern vergaßen schnell ihre früher geäußerte Wertschätzung unseres Bildungswesens, nachdem Klaus Kinkel 1991 gefordert hatte, die DDR („das SED-Regime“) zu „delegitimieren“.
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