RotFuchs 232 – Mai 2017

WISSENSCHAFTLICHE WELTANSCHAUUNG

Von der Solidarität

RotFuchs-Redaktion

Seit Mitte der 60er-Jahre hat der damalige „Deutschlandsender“ (später umbenannt in „Stimme der DDR“) eine auch in Westdeutschland gehörte und beachtete Sendereihe mit Vorträgen zu Fragen unserer wissenschaftlichen Weltanschauung ausgestrahlt, deren Manuskripte sich erhalten haben und die wir den Lesern des „RotFuchs“ in einer Auswahl zur Verfügung stellen – inhaltlich wurde nichts verändert, von unumgänglichen Kürzungen abgesehen. Man kann diese Vorträge lesen als Kapitel eines Geschichtsbuchs (dazu auch immer die Angabe des seinerzeitigen Sendetermins) und zugleich als Einführung in die Grundlagen marxistisch-leninistischen Denkens. Viele auch in den Vorträgen zum Ausdruck kommende Hoffnungen haben sich mit und nach der Konterrevolution von 1989/90 zerschlagen, manche Prognosen haben den Praxistest nicht bestanden. Wesentliche Erkenntnisse von Marx, Engels, Lenin und anderen unserer Theoretiker aber haben nach wie vor Bestand, an ihnen halten wir (gelegentlich deswegen als Ewiggestrige beschimpft) fest, sie wollen wir – auch mit dieser Serie – vermitteln.

Sendetermin: 20. Juni 1973

Seit geraumer Zeit werden im Westen die Werbetrommeln der sozialdemokratischen Propaganda mit erhöhter Lautstärke für die „Grundwerte“ des sich selbst so bezeichnenden „demokratischen Sozialismus“ gerührt. Es sind dies die in der bürgerlichen Gesellschaft längst zur hohlen Phrase deformierten Begriffe der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Solidarität. Als „Grundwerte“ auf dem Godesberger Parteitag von 1959 programmatisch verkündet, sollen sie jetzt, fast anderthalb Jahrzehnte danach, eine Art höhere Weihe bekommen. Man will sie neu aufputzen, „präzisieren“, „vertiefen“; die theoretische Diskussion um sie soll belebt werden.

Wer auch nur die elementarsten wissenschaftlichen Aussagen über das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise, ihre Wolfsgesetze der Konkurrenz, ihren Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung, den unversöhnlichen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit kennt, der sollte sich auch über das Folgende klar sein: Wo die ökonomische Macht der Monopolkapitalisten uneingeschränkt fortbesteht, kann es weder wahre Freiheit noch wahre Gerechtigkeit für die übergroße Mehrheit des Volkes, die arbeitenden Menschen geben. Und zwar deshalb nicht, weil hier die Arbeiterklasse vom Besitz an Produktionsmitteln und damit auch von der politischen Macht ausgeschlossen ist.

Wie steht es nun aber mit dem drittgenannten „Grundwert“, der Solidarität? Dieser Begriff stammt ja nicht, wie die erstgenannten – Freiheit und Gerechtigkeit –, aus jener Geschichtsepoche, da die aufstrebende Bourgeoisie dazu berufen war, dem Regiment der Feudalaristokratie den Garaus zu machen, die feudalen Unfreiheiten und Privilegien zu beseitigen.

Der Begriff der Solidarität ist vielmehr tief in der revolutionären Arbeiterbewegung verwurzelt. Unter der Losung der Solidarität vereinigte sich die Arbeiterklasse unter der Führung ihrer marxistischen Partei bereits im vorigen Jahrhundert zum revolutio­nären Emanzipationskampf gegen das Kapital. Seit das „Kommunistische Manifest“ vor 125 Jahren die Parole ausgab „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“, wurde die Solidarität zum Inbegriff des gemeinschaftlichen, internationalistischen, die Ländergrenzen überspringenden Kampfes der revolutionären Arbeiter gegen die kapitalistische Ausbeutung und für die Errichtung des Sozialismus. Unter diesem Feldzeichen übten die Arbeiter vieler Länder tätige Solidarität mit der jungen Sowjetmacht, als sie sich gegen die blutigen Interventionskriege imperialistischer Armeen behaupten mußte. Unter dem Banner der proletarischen Solidarität gaben Tausende der besten Söhne und Töchter der internationalen Arbeiterklasse ihr Leben im Kampf um die Verteidigung der spanischen Republik gegen den Franco-Faschismus. Die Solidarität der Sowjetunion, der sozialistischen Staatengemein­schaft und fortschrittlicher Menschen in allen Erdteilen half dem heldenhaften Volk Vietnams, den Sieg gegen die barbarischste aller imperialistischen Aggressionen zu erringen.

Hat also der Begriff der Solidarität im Vokabular der SPD-Ideologie einen antiimperia­listischen Inhalt, signalisiert er eine antikapitalistische Tendenz dieser Ideologie, oder ist in ihm gar ein Stück der besten Traditionen der revolutionären Arbeiterbewegung lebendig geblieben? Bewahrt die SPD vielleicht einen Rest wirklichen Marxismus innerhalb einer ansonsten offen antimarxistischen und antikommunistischen Ideologie auf? Von all dem ist nichts zu merken.

In sozialdemokratischen Sonntagspredigten und im SPD-Journalismus wird der Begriff Solidarität mit so schönen Worten verdeutscht wie: Hilfsbereitschaft, tätige Menschenliebe, Einstehen für die Schwachen. Dies soll durch den „freiheitlichen Sozialismus“, wie die rechten SPD-Führer ihn verkünden, in die brutale Wirklichkeit des heutigen Kapitalismus Einzug halten. Mittels des Grundwertes der Solidarität verspricht man, den vorherrschenden Verhaltensweisen in der vom Profitstreben und dem Konkurrenzkampf regierten Welt des Kapitals zu Leibe zu rücken. Ulrich Lohmar, SPD-Publizist und Professor für Politische Wissenschaft in Paderborn, schreibt: „Die Sozialdemokratie geht aus von den moralischen Werten der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität. Sie entwickelt aufgrund der jeweiligen gesellschaftlichen Situation daraus politische Strategien.“¹ Im Anschluß an das eben Zitierte wird weiter behauptet, daß der Kommunismus ausgehe von einem geschlossenen ideologischen Bild der Gesellschaft, und in diesem Bilde sei der Zusammenhang von Werten, Gesellschaftsanalysen und Strategien weitgehend aufgehoben, weil ideologisch vorgeformt. Im übrigen bestehe der Gegensatz zwischen Sozialdemokratismus und Kommunismus darin, daß ersterer die Person, das Individuum zum Maß, die Partei zum Mittel und die Gesellschaft zum Handlungsrahmen habe. Im Kommunismus sei es umgekehrt: die Gesellschaft sei hier das Maß, die Person das Mittel, die Partei das Instrument. In anderen Worten: Im Kommunismus sei der Mensch lediglich Mittel zum Zweck, während sich der Sozialdemokratismus als Gipfel der Humanität und Menschenliebe darstellt. Alles, was diese Politik unternehme, tue sie zum höheren Ruhme und zum Glück des Individuums.

Selbstredend geht die praktische Politik und die politische Strategie der sozialdemokratischen Führer, gehen beispielsweise ihre Finanz- und Steuerpolitik, ihre Rüstungspolitik, all ihre Maßnahmen für Sicherung des Wachstums der Monopolprofite, selbstredend geht das alles nicht von irgendwelchen hochtönenden moralischen Grundwerten aus. Keineswegs solidarisiert sie sich mit den in der kapitalistischen Gesellschaft wirklich ökonomisch Schwachen. Ganz und gar nicht kämpft sie für die Interessen der Arbeiterklasse, macht sie Anstrengungen, deren Klassensolidarität gegen die Unternehmer zu fördern und ihr zum Durchbruch zu verhelfen. Es ist ja gerade ihr erklärtes Ziel, das bestehende Wirtschaftssystem, das auf der Ausbeutung der Lohnarbeit durch die Produktionsmitteleigner basiert, vor jeder revolutionären Erschütterung zu schützen. Alle Reformpläne dieser Politik wollen eingestandenermaßen das System der Profitwirtschaft nur noch „leistungsfähiger“ machen.

Was wir hier in puncto Solidarität vor uns haben, ist uralter ideologischer Plunder; er stammt aus der verstaubten Rumpelkammer des seinem Inhalt nach bürgerlichen und kleinbürgerlichen Scheinsozialismus des vorigen Jahrhunderts, vermengt in der für den Sozialdemokratismus typischen Manier Vorstellungen des christlich-religiösen Sozialismus mit der Wertphilosophie des Neukantianismus. Hierauf paßt noch immer, was einmal Marx über eine auf Lassalle zurückgehende Tendenz in der jungen sozialdemokratischen Bewegung vor fast 100 Jahren als die Absicht „einer ganzen Bande halbreifer Studiosen und überweiser Doctores“ charakterisiert, „die dem Sozialismus eine ,höhere, ideale‘ Wendung geben wollen, d. h. die materialistische Basis … zu ersetzen durch moderne Mythologie, mit ihren Göttinnen der Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und fraternité“.²

Was man uns als „demokratischen Sozialismus“ einschließlich seines „Grundwertes Solidarität“ serviert, ist durchaus im Marxschen Sinne moderne Mythologie. Freilich ist hierbei eine gewisse Differenz zu den Veteranen des kleinbürgerlichen ethischen Sozialismus im vorigen Jahrhundert zu markieren. Letztere schickten sich an, den wissenschaftlichen Sozialismus durch Infiltration von Elementen des religiösen Denkens und der bürgerlichen Philosophie ideologisch zu zersetzen, theoretisch zu verwässern und ihm die revolutionäre politische Spitze abzubrechen, sein proleta­risches Klassenwesen aufzulösen. Die Pseudosozialisten der damaligen Zeit wollten dem Sozialismus eine „höhere“, sprich bürgerliche Weihe geben. Heute versuchen die rechten Ideologen der Sozialdemokratie dem verfaulten imperialistischen Herrschaftssystem eine „ideale“ Wendung dadurch zu geben, daß sie es mit der „höheren“ Weihe des „freiheitlichen Sozialismus“ auszustatten suchen. Sie wollen aus Schwarz Weiß machen. Mit Sozialismus hat das alles nichts zu tun.

Warum ist das Gewäsch von Solidarität und der Anspruch, aus ihr die politische Strategie des Sozialdemokratismus abzuleiten, ebensolcher ideologischer Lug und Trug wie das unaufhörliche Gerede von Freiheit und Gerechtigkeit? Die Antwort fällt dann nicht schwer, wenn wir die Frage konkret stellen, wenn wir also fragen: Welchen Klasseninhalt hat hier der Begriff Solidarität? Welches Klasseninteresse drückt er aus, auf welches präzise politische Ziel wird er bezogen, welches sind die prakti­schen Maßregeln, um ihm Lebenskraft zu geben, mittels welcher grundlegenden Veränderungen der bestehenden Produktionsverhältnisse, durch welche politische Kampfaktion, durch welche tiefgreifende Umwälzung der politischen Machtver­hältnisse soll er verwirklicht werden? Anders: Wer soll mit wem und wogegen Solidarität üben?

Es gibt keine Solidarität ins allgemeinmenschliche Blaue hinein. Der Dunsthimmel klassenneutraler Spekulation mit den „Grundwerten“ steht im krassesten Widerspruch zur klassengespaltenen kapitalistischen Gesellschaft, deren Wirklichkeit er verschleiern soll. Es gibt ebensowenig eine über den Klassen schwebende Solidarität wie es Gerechtigkeit oder Freiheit schlechthin, in Abstraktion von den materiellen gesellschaftlichen Verhältnissen, den Klassenkämpfen, den realen politischen Machtverhältnissen gibt. Solange eine Gesellschaft in unversöhnliche Klassen gespalten ist, gehört eine klassenneutrale Solidarität ins Reich der sozialen Legenden. Zwischen dem Konzernherrn und dem Fabrikarbeiter kann es keine Solidarität geben. Damit an die Stelle der Wolfsgesetze der kapitalistischen Profitjagd, die ausnahmslos allen Lebensäußerungen der imperialistischen Gesellschaft ihr abstoßendes Gepräge geben und die ihren brutalen Egoismus, ihre Menschenverachtung erzeugen, damit also an deren Stelle wirkliche und umfassende Solidarität, das solidarische Miteinander aller Werktätigen bei der bewußten und planvollen Gestaltung eines erfüllten Lebens treten können, dafür müssen die richtigen Antworten auf die oben gestellten Fragen gegeben werden. Der Marxismus-Leninismus gibt sie. Und nur auf dem Boden seiner wissenschaftlichen und historisch bestätigten Theorie können die wirklichen Verhältnisse umgewälzt werden – allen voran die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und die auf ihnen fußende Macht der Monopolherren. Weil aber die rechte Sozialdemokratie diesen ökono­mischen und politischen Grundpfeiler der kapitalistischen Ausbeuter­gesellschaft unangetastet läßt, ihn verteidigt und weil ihre Politik wesentlich darauf abzielt, ihn den neuen Bedingungen unserer Epoche anzupassen, ihn mit neuen Verfahren zu zementieren, sind die von ihr gepredigten „Grundwerte“ der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zwar akzeptabel für die Besitzenden in der kapitalistischen Gesellschaft – für die Masse der nach wie vor vom Kapital Ausgebeuteten sind es Scheinwerte, die kein Jota an den wirklichen Besitzverhältnissen, an der Klassensituation ändern.

Anmerkungen

  1. U. Lohmar, Sozialdemokratie oder Kommunismus?
    In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, 24. Februar 1973
  2. Marx an F. Sorge, 19. Oktober 1877
    In: Marx/Engels, Ausgewählte Briefe, Berlin 1953, Seiten 364/365.