Von „Liebesromanen“ zum Lyrikpreis
Sehr deutlich kann ich mich an eine Seite meiner Fibel erinnern: Drei Latten eines Holzzaunes im Hintergrund, davor eine Tomatenstaude mit großen roten Früchten und links ein Mädchen im Dreß der 30er Jahre mit lockigem Bubikopf und Schürze. Darunter in damals üblicher Sütterlinschrift und mit Silbentrennung To-ma-te.
Meine Mutter erzählte, daß ich das Lesen nicht lernte. Als sie die Lehrerin fragte, ob sie in den großen Ferien täglich mit mir üben solle, bekam sie ein klares Nein zur Antwort. Erst am letzten Tag vor Schulbeginn nahm ich die Fibel zur Hand. Ich soll ohne Mühe alle Texte gelesen haben.
Bücher begleiten mich seit frühen Kindertagen. Mein Großvater betrieb die größte Buchhandlung Stralsunds am Alten Markt gegenüber dem Rathaus und der Nikolaikirche. Er war eine stadtbekannte Persönlichkeit. In der Mittagspause durfte ich ihn in die nahen Anlagen begleiten, wo er auf einer Bank ein mitgebrachtes Buch las, bevor wir zum Essen wieder nach Hause gingen. Auch mein Vater war beim Großvater als Buchhändler angestellt.
Grimms Märchen waren meine liebste Lektüre, „Die zwei Brüder“ mein Favorit. Ich durfte manches Buch lesen, es aber nur im Winkel von 45 Grad aufschlagen, denn es kam hinterher wieder in den Verkauf.
Großvater starb 1943. In jenem Sommer wurden meine Schwester und ich wegen drohender Bombenangriffe zu Verwandten nach Ückermünde evakuiert. Vor dem Haus Am Bollwerk Nr. 5 floß zwar die Ücker vorbei, Lastkähne lagen am Kai und beförderten Güter über die Ostsee, doch es waren nicht der heimatliche Strelasund und die Ausflugsdampfer nach Altefähr oder Hiddensee. Ich vermißte mein Umfeld und hatte Sehnsucht. Wem sollte ich das sagen? Meiner kleinen Schwester? Den Verwandten? In meiner Seelennot griff ich zu einem Oktavheft und schrieb mein erstes Gedicht mit der Wiederholung am Anfang und am Schluß: „Ich halt’s in der Fremde nicht mehr aus, ich reiß aus und geh zu Fuß in die Heimat nach Haus.“ Seitdem konnte ich mich schreibend von vielem, was mich innerlich bewegte, befreien. Auch ein kleines Prosastück ist in dem Heft erhalten, viele Ereignisse sind in Gedichtform verarbeitet. Ich besitze es noch.
Die vorgetäuschten „Hausaufgaben“ entpuppten sich als Liebesromane. Das Theater, das folgte, kann man sich vorstellen. Doch jeden Morgen gingen die Fortsetzungen durch die Klasse, Lob und Ansporn zugleich. Schulaufgaben? Die wurden einfach abgeschrieben. Die Phantasie diktierte etwas anderes. Darüber saß mein Vater nun lesend am Schreibtisch: „Spannend ist es ja.“ Nach der Lektüre wanderten meine Liebesromane in den Ofen. Einer von ihnen aber überdauerte die Zeiten. Wie, vermag ich nicht zu sagen. „Die Einkehr zur Glückseligkeit“ steht neben einem schwarz eingebundenen Oktavheft und vielen Belegen verschiedener Periodika und Anthologien späterer Jahre im Schrank.
1950 schrieb die Stadt Stralsund einen Literaturwettbewerb aus. Erster Preis: 300, Zweiter: 200 und Dritter: 100 Mark. Damals arbeitete ich beim Literaturvertrieb der SED-Kreisleitung. Da gab es neben Parteibroschüren auch viel Belletristik.
Mit den Liebesromanen war auch meine Lust, Gedanken aufs Papier zu bannen, verbrannt. Doch dieser Aufruf zwang mir den Füller in die Hand. Eine Gegenwartsgeschichte „Gitta geht ihren Weg nicht allein“ entstand. Ich schrieb wie besessen und konnte den Text – etwa 100 Seiten – vor Fristablauf beim Kulturamt abgeben. Einen Monat später sollte die Preisverleihung erfolgen. Es waren noch keine zwei Wochen vergangen, da „verirrten sich“ einige Genossen in die Räume des Literaturvertriebs. Sie machten Andeutungen, beim Wettbewerb sei „eine gute Erzählung“ eingereicht worden. Dabei blickten sie mich an. Als dann auch noch die Bemerkung fiel, ich solle zum Festakt im Theater ein großes Portemonnaie mitbringen, tippte ich auf den 3. Preis.
Jury-Vorsitzender war Ehm Welk. Er hatte für den ersten Preis und dessen Erhöhung auf 500 Mark plädiert. Ich faßte es nicht. Nach Hause konnte ich nicht, denn meine Mutter hatte schon tagelang geschimpft, meine Teilnahme an diesem Wettbewerb kompromittiere die ganze Familie. So landete ich nach dem Feiern irgendwie im Pionierhaus.
Gedruckt wurde die Erzählung nie. Frisch von der Leber weg geschrieben, fehlte ihr jeglicher Gestaltungssinn. Was wußte ich schon von solchen Dingen! Kleinere Reportagen, Gedichte und Begegnungen mit Schriftstellern halfen da wenig. Auch den Rat von Eduard Claudius, „Schreiben heißt Streichen“, verstand ich noch nicht. Was ich an Redaktionen und Verlage sandte, kam zurück. Dennoch wollte mich Kuba aufs Leipziger Literaturinstitut schicken. Ich hatte aber gerade meinen Mann kennengelernt und Liebe erfahren. Drei Jahre, in denen ich alles falsch machte, was man nur falsch machen konnte, lagen hinter mir. Und dieser Mann, fast doppelt so alt wie ich, verzieh es mit Liebe. Sollte ich das aufs Spiel setzen? Wir zogen nach Brandenburg an der Havel und heirateten. Doch nur zehn Jahre später stand ich mit den Kindern an seinem Grab.
Natürlich hatte ich auch in der Zwischenzeit den Stift nicht aus der Hand gelegt. Trotz aller Mißerfolge war ich „drangeblieben“. Zu ihnen gehörte Christa Wolfs Urteil, ich hätte „absolut kein Talent zum Schreiben“. Doch ich mußte es tun und war nicht entmutigt.
Irgendwann klingelte das Telefon. Eine Männerstimme sagte: „Ich habe gehört, Sie schreiben Texte für Wanderungen.“ „Ja!“ „Möglicherweise könnten wir ein Buch machen. Schicken Sie mir doch mal ein paar Proben, damit ich sehe, ob Sie schreiben können.“ Ich sandte ihm die Kopien von Strecken aus der Lokalpresse, die ich als ehrenamtliche Wanderleiterin erkundet hatte. Die Proben überzeugten ihn. Als der alte Herr mir dann mein erstes Buch überreichte, saßen wir uns am großen runden Tisch im Wohnzimmer gegenüber. Er entnahm seinem Rucksack mehrere Bände und legte sie auf den Tisch. Den obersten gab er mir. Leider war der Name mit oe statt mit ö geschrieben, obwohl die gesamte Korrespondenz unter Bölsche gelaufen war. Mein Mann legte immer größten Wert auf unseren Namen. Schließlich hatte ein Verwandter zum Kreis um den jungen Gerhart Hauptmann gehört und war Namensgeber der Hauptstraße von Berlin-Friedrichshagen.
Das zweite Wanderbuch gelang dann besser, trotz eines Titelfotos, das mir nicht zusagte.
Jahre zuvor hatte ich bei Sarah Kirsch den freien Reim entdeckt. Im Zirkel Schreibender Arbeiter des Stahl- und Walzwerkes Brandenburg kehrte ich zum Gedicht zurück. Bei uns gab es weniger Prosa-Autoren als Verse-Schmiede. Jeder Lesung eines Gedichts folgten aufbauende und anspornende Debatten. 1984 belegte ich bei dem vom Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) alljährlich veranstalteten Marchwitza-Wettbewerb im Genre Lyrik den zweiten Platz.
Die Tatsache, daß Schreiben zugleich auch Streichen bedeutet, verstand ich erst in diesen Jahren. Das allerdings geschieht meist im Kopf, bevor die Zeile aufs Papier gelangt. Die Worte werden gewendet, ausgetauscht, ersetzt. Wenn es dann schwarz auf weiß dasteht, bedarf es seltener einer Änderung. Neben Gedichten und Prosatexten entsteht seit 1978 jedes Jahr mein „Hüttenbuch“. Dabei handelt es sich um Aufzeichnungen, die Lebensumstände, Wandlungen und Erfahrungen tagebuchartig festhalten.
Der Text stützt sich auf den Beitrag der Autorin „Stationen“ in dem vom Verlag Neue Literatur, Jena, herausgegebenen Sammelband „Mein Kopf, das Buch und ich“.
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