Vorfreude auf einen neuen Sozialismus
Am 31. August 1990 schrieb Prof. Jürgen Kuczynski an eine Gruppe junger Sozialisten die folgenden Zeilen:
Alle historische Erfahrung zeigt, daß die Geburt einer neuen Gesellschaftsordnung ein schwerer und komplizierter Prozeß ist. Denken wir nur daran, wie schwer und kompliziert die Geburt des Kapitalismus war. Er wurde zuerst kurz vor 1400 in Norditalien geboren, ging aber nach einem halben Jahrhundert wieder unter, der Feudalismus kam wieder für fast vier Jahrhunderte zur Herrschaft. In Deutschland fand die erste bürgerliche Revolution im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts statt, dann siegte wieder die feudale Konterrevolution drei Jahrhunderte lang, bis die zweite bürgerliehe Revolution 1848 erfolgte. In England begann eine starke Entwicklung des Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Im 17. Jahrhundert erstarkten wieder die feudalen Kräfte – doch dort kam es, noch bevor sich diese wieder durchsetzen konnten, zur großartigen bürgerlichen Revolution von 1640. Die Ideale des Bürgertums erwiesen sich als so lebenskräftig, daß sie eine Überwältigung durch den Feudalismus verhinderten.
Wir sehen, wie kompliziert die Geburt einer neuen Gesellschaft ist. Auch die des Sozialismus macht da keine Ausnahme. Die Weltgeschichte geht heute viel schneller vorwärts als vor einem halben Jahrtausend. Ihr werdet die neue Wende zum Sozialismus, einem sauberen, einfachen, klaren, nicht deformierten Sozialismus noch erleben, und ich versichere Euch – ich mit meinen 86 Jahren – lasse mir wenigstens die Vorfreude auf ihn nicht nehmen.
Mit vielen guten Wünschen
Euer
Jürgen Kuczynski
Aus: Asche für Phönix. Aufstieg, Untergang und Wiederkehr neuer Gesellschaftsordnungen. PapyRossa-Verlag, Köln 1992
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