Wettlauf in der Sackgasse:
Afghanistans Präsidentschaftswahlen
Warlords ohne Ende
Ein Ringen um den Kopf des toten Kalbes nannten die Afghanen das bereits im März 2013 de facto eröffnete Wahlkampftheater um das Präsidentenamt am Hindukusch. Der erste Wahlgang fand am 5. April 2014 statt. Einmal mehr ging es um Postenverteilung unter Warlords. Verbal verlangten alle Parteien „saubere Wahlen“. „,Haltet den Dieb!‘ schreien alle Diebe“, sagt man in Afghanistan, dessen Volk seit 2001 viele solcher Wahlen ertragen mußte.
Mahmud Karsai, ein Bruder des bisherigen Präsidenten, hatte schon am 8. März 2013 vorsorglich verlangt, alle Kandidaten für das Präsidentenamt sollten sich unterschriftlich verpflichten, die Wahlergebnisse im April 2014 ohne Widerspruch zu akzeptieren.
Was aber wird aus Hamid Karsai?
Nach der Verfassung durfte er nicht zum dritten Mal kandidieren.
Doch Karsai hat sich noch rechtzeitig vor seinem Abgang auf dem schwer bewachten Gelände des Präsidentenpalastes ein Haus errichten lassen. Auf welcher gesetzlichen Grundlage dies geschehen ist, bleibt sein Geheimnis. Er beabsichtigte also überhaupt nicht, nach Ende seiner Amtszeit den Palast zu verlassen und betrachtet sich offenbar als selbsternannter Berater seines Nachfolgers. Seit einiger Zeit versucht er verzweifelt, seinen ramponierten Ruf als CIA-Mann und Pudel der USA zu verbessern.
Ende Juli 2013 hatte Hamid Karsai aus seiner Entourage eine Wahlkommission zusammengebastelt. Zu deren Chef wurde Ahmad Jusuf Nuristani, ein in den USA ausgebildeter Anthropologe und Bürger der Vereinigten Staaten, ernannt.
Unter den Anwärtern auf das Präsidentenamt befanden sich die erstaunlichsten Typen: Einer von ihnen war Zalmai Khalilzad, ein gebürtiger Afghane, der in der Bush-Ära US-Botschafter in Afghanistan gewesen war.
Schon im Sommer 2013 bewarben sich 27 Personen, darunter nur eine Frau, die ihre Kandidatur bei der „Unabhängigen Wahlkommission“ (IEC) angemeldet hatten. „Kaiser“ Karsai sah auf einmal ziemlich nackt aus, weil fast die Hälfte seiner Kabinettsmitglieder, Behördenchefs und zahlreiche Provinzgouverneure oder ihm ergebene Parlamentarier zurücktraten, um sich in letzter Minute als Präsidentschaftskandidaten oder deren Stellvertreter registrieren zu lassen. Einige gaben sich vor der IEC ziemlich martialisch. Die ehemaligen Modjahedin-Kommandanten und derzeitigen Warlords erschienen mit Dutzenden Bewaffneten. Einer von ihnen war der wegen Kriegsverbrechen und ethnischer Säuberungen großen Stils berüchtigte Abdul Rab Mohammad Rassoul Sayyaf. Er ist jener Islamist, welcher nicht nur Osama Bin Laden nach Afghanistan geholt hatte, sondern auch als einer seiner besten Freunde galt. Als Parlamentsabgeordneter in Kabul machte er sich aus verständlichen Gründen stark, ein Amnestiegesetz für Kriegsverbrecher zu erlassen.
Ein anderer Bewerber war der Karsai-Vertraute Gul Agha Shirzai, Gouverneur der ostafghanischen Provinz Nangrahar, der alles verkörpert, was für die Modjahedin-Kommandanten und Warlords typisch ist: Gier, Grausamkeit, Verachtung für Menschenrechte. Als Minister für Städtebau in Karsais erstem Kabinett begleitete Shirzai persönlich seine Heroinfracht im Flugzeug von Helmand nach Kabul.
Der ehemalige Verteidigungsminister General Abdul Rahim Wardag wollte auch Präsident werden.
Er hatte 7,5 Millionen Dollar an die Abgeordneten gezahlt, um durch diese bestätigt zu werden. Sein Sohn ist als Inhaber einer Sicherheitsfirma stets den US-Besatzern zu Diensten.
Kurz nach der Registrierung wurde über die Hälfte der Bewerber wegen doppelter Staatsbürgerschaft von der Liste gestrichen. Insgesamt disqualifizierte man 17 von 27 Präsidentschaftskandidaten, die im Besitz ausländischer Pässe, meist der USA, waren.
Auch an Gewalt fehlte es nicht. So erschossen die Taliban am 17. September 2013 Amanullah Aman, den Chef der Wahlkommission in der nordafghanischen Provinz Kundus. Anfang Februar 2014 wurden zwei Wahlhelfer Abdullahs in der westafghanischen Stadt Herat ermordet.
In Afghanistan ist alles wie eine Ware käuflich und verkäuflich. Der Ein- und Verkauf von Kandidaten spielte auch diesmal eine enorme Rolle. Wo eine Kandidatur zugunsten des aussichtsreicheren Bewerbers zurückgezogen werden sollte, floß Geld.
Auch Mohammad Atta Noor, der schlaue und machtbesessene „König von Balkh“, handelte nach dem Motto: Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Er zog es vor, ein regionaler Herrscher zu bleiben, statt Bürgermeister von Kabul zu werden.
Zum ersten Mal fanden bei Fernsehduellen inhaltliche Debatten statt. Der Finanzfachmann Ahmadzai stellte sogar „einen detaillierten Zehnjahresplan zur Schaffung von Arbeitsplätzen“ vor. Eine Farce! Abdullah und Ahmadzai kündigten an, als erste Amtshandlung die sofortige Unterzeichnung des sogenannten Sicherheitsabkommens – also des Besatzungsabkommens mit den USA – zu vollziehen, was Afghanistan in ein Militärprotektorat der Vereinigten Staaten – auch ohne Kampftruppen – verwandelt. Obwohl Karsai das Abkommen hatte ausarbeiten lassen und auf der Ratsversammlung (Loya Jirga) am 20. November 2013 die von ihm einbestellten Delegierten dazu aufforderte, dem Dokument zuzustimmen, weigerte er sich am Ende, es zu unterzeichnen. Das war seine späte Rache an Barack Obama, der ihn 2009 hatte ablösen wollen.
Der Wahlkampf am Hindukusch trug deutlich US-Charakter. Zahlreiche bestellte Schreihälse begleiteten die Kandidaten. Sie stimmten nach fast jeder unbedeutenden Aussage ein so ohrenbetäubendes Geschrei an, daß der Kandidat kaum noch zu verstehen war.
In der Endphase des Schlagabtauschs wurde mit harten Bandagen gekämpft. In manchen Provinzen sollen sogar Waffen verteilt worden sein, um dem Einfluß von Kandidaten auf die Wahlkommission Nachdruck zu verleihen. Fast sämtliche Bewerber warfen sich gegenseitig vor, von hohen und höchsten Regierungsbeamten protegiert zu werden.
Die 16 EU-Wahlbeobachter aus dreizehn europäischen Ländern trauten sich kaum aus ihrem Luxushotel „Serena“ in Kabul heraus. Sie kehrten dem mit 100 Millionen US-Dollar aus dem Ausland finanzierten Urnengang wegen Anschlagsgefahr den Rücken und reisten ab, bevor die Abstimmung überhaupt stattgefunden hatte. Sie konnten nur wenige Wahllokale in Kabul besichtigen und stellten dort nicht ganz so massive Fälschungen wie 2009 fest, berichtete der WDR. Nur einen Tag nach der Abstimmung aber wurden 162 Beschwerden bei der IEC eingereicht, am 9. April waren es dann schon 1500.
Es gab wie in der Vergangenheit „Geisterwahllokale“ mit gähnender Leere, doch bis an den Rand gefüllten Wahlurnen. Selbst im Westen Kabuls, wo zwei Millionen schiitische Hazarah wohnen, fehlten die Wahlzettel schon am Mittag. Das war in 15 von 34 Provinzen des Landes der Fall. Offenbar hatten einige Wähler mehrfach abgestimmt.
Das in der Hauptstadt ansässige Afghanistan Analyst Network (AAN) berichtete, es habe insgesamt 13,5 Millionen Wahlberechtigte gezählt. Andere Quellen sprachen von 12, 15 und 21 Millionen. Im Umlauf waren 21 Millionen Wahlkarten. Man schätzte, daß über 30 Prozent mehr Karten „auf dem Markt“ gewesen sind, als es Wahlberechtigte gab. Damit waren Stimmenkauf und Manipulation programmiert. Vor allem auf dem Land, wo kollektiv gewählt wurde, verkauften lokale An-führer die Stimmen ihrer Untertanen gegen Geld und Regierungsposten im voraus an Zwischenhändler.
Die ARD-Südasien-Korrespondentin Sandra Petersmann fand dies alles gar nicht so schlimm und attackierte „Berufsnörgler“. Bald danach reihte sie sich selbst unter diese ein. „Der Staat ist schwach und korrupt und kann sich allein nicht finanzieren. Gewalt gehört nach wie vor zum Alltag, die Armut ist allgegenwärtig“, stellte sie fest. Nach Bekanntgabe der Vereinbarung zwischen Ahmadzai und Abdullah fügte Petersmann am 21. September hinzu: „Was mich unendlich traurig macht, ist die Tatsache, daß so viele Millionen Afghanen zweimal ihr Leben riskiert haben für eine Wahl, die ihnen gestohlen worden ist. Die Wähler waren im Angesicht von Todesdrohungen unendlich mutig. Sie wollten Wandel. Nicht sie haben gefälscht, sondern jene, welche jetzt gemeinsam regieren werden. Es verbietet sich, nach dieser Wahlfarce von der ersten demokratischen Machtübergabe in der afghanischen Geschichte zu sprechen.“
Während US-Präsident Barack Obama die Wahlen als „entscheidend für die demokratische Zukunft Afghanistans“ bezeichnete, sprach Ex-NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen von einem „historischen Moment“. Der außenpolitische Kommentator der FAZ, Klaus-Dieter Frankenberger, sah darin sogar eine nachträgliche Rechtfertigung für den Bundeswehreinsatz am Hindukusch.
Am 15. Mai wurde das „amtliche Endergebnis“ verkündet. Demnach erhielt Abdullah 45 % (überwiegend der Tadschiken und Hazaras) und Ashraf Ghani Ahmadzai 31,6 % (vor allem der Paschtunen, Usbeken und Turkmenen). 52 % der Afghanen hätten an der Abstimmung teilgenommen.
Meine Gesprächspartner in Afghanistan waren übereinstimmend der Meinung, die USA hätten darüber entschieden, wer in Kabul Präsident werden dürfe. Alles andere sei nur billiges Theater. Sowohl Ahmadzai als auch Abdullah kündigten an, die Beziehungen zur Besatzungsmacht USA und dem wichtigsten Nachbarn Pakistan rasch zu verbessern. „Die größte Gefahr für den schwachen afghanischen Staat sind nicht die Taliban, sondern ist eine korrupte, als illegitim betrachtete Regierung“, sagte man mir in Kabul.
Am 14. Juni 2014 fand dann die Stichwahl statt. Nach wochenlangem Streit und gegenseitigen Vorwürfen der Kandidaten gab die Wahlkommission am 7. Juli das vorläufige Ergebnis bekannt. Demnach sollte Ahmadzai 56 % und Abdullah 44 % des Votums erhalten haben. Ahmadzai hätte demnach die Zahl seiner Stimmen verdoppelt und Abdullah nur 16 % hinzugewonnen.
Das amtliche Ergebnis sollte am 22. Juli verkündet und der Nachfolger Karsais am 2. August in sein Amt eingeführt werden. Doch eine neue Runde des Streits und wechselseitiger Betrugsvorwürfe begann. Ashraf Ghani Ahmadzais unglaubwürdige Aufholjagd wurde damit begründet, seine gut organisierte Sippe habe im Osten des Landes den Frauen erlaubt, an der Stichwahl teilzunehmen.
Schon am 8. Juli hatte sich Abdullah zum Sieger ausgerufen. Seine Anhänger verlangten, er solle eine Parallelregierung bilden. Die Wahl sei gefälscht worden, er werde niemals eine Niederlage einräumen, erklärte Abdullah. „Tod Ashraf Ghani! Tod der Wahlkommission!“riefen Demonstranten in Kabul und Herat.
Am 8. Juli machte die US-Administration deutlich, daß sie der von Diplomaten als „dramatisch“ beschriebenen Krise in Afghanistan nicht länger von der Seitenlinie aus zuschauen werde. US-Präsident Obama telefonierte mit Abdullah und Ahmadzai und drohte mit dem Ende der militärischen und finanziellen Unterstützung. Danach wurden beide Kandidaten „von zehn verschiedenen Seiten“ täglich unter Druck gesetzt, um den Weg zur Bildung einer „Regierung der nationalen Einheit“ zu ebnen.
Am 8. August reiste Außenminister Kerry nach Kabul und setzte im Ergebnis eines vierzehnstündigen Verhandlungsmarathons in der US-Botschaft eine schriftliche Vereinbarung zur gemeinsamen Regierungsbildung durch. Ahmadzai erklärte nun plötzlich, er wolle mit Abdullah zusammenarbeiten. „Was uns verbindet, ist viel mehr als das, was uns während des Wahlkampfes getrennt hat“, heuchelte er. Die Kontrahenten waren damit einverstanden, alle angeblich 8,1 Millionen abgegebenen Stimmen noch einmal zu überprüfen zu lassen.
Die NATO wollte bis zu ihrem Gipfeltreffen im südwalisischen Newport am 4. und 5. September wissen, wer sich in Afghanistan fortan Präsident nennen dürfe, um mit diesem das Besatzungsabkommen unter Dach und Fach zu bringen. Es soll die „westliche“ Präsenz nach dem offiziellen Abzug der ISAF-Truppen zementieren. Karsai lehnte es ab, nach Wales zu reisen, was als sein „letzter Affront“ bewertet wurde.
Nach der 100 Millionen Dollar verschlingenden Wahlfarce gab es am Ende doch noch einen „Befreiungsschlag“. Er ähnelte dem Hornberger Schießen. Es fand zwar eine Zeremonie statt, aber ein Ergebnis der Neuauszählung, die immerhin unter Aufsicht der UNO stattfand, ließ weiter auf sich warten. Abdullah habe nicht wie 2009 als Verlierer dastehen wollen, hieß es. Deshalb sei Ahmadzai am 21. September „auf seinen Wunsch“ von der Wahlkommission zum neuen Präsidenten erklärt worden. „Das geschah, ohne ein konkretes Wahlresultat zu veröffentlichen“, stellte die „New York Times“ fest.
Die Vereinbarung zwischen Ahmadzai und Abdullah über ein Spiel mit verteilten Rollen ist verfassungswidrig. Für die Afghanen ändert sich am totalitären Regime nichts. „Der Kampf um die Demokratie ist in Afghanistan gescheitert, gesiegt haben die Taliban“, urteilte die Prager Zeitung „Mlada Fronta Dnes”.
Unter massivem Druck westlicher Politiker, besonders aber der USA, einigten sich die beiden wichtigsten Räuberhäuptlinge Ahmadzai und Abdullah am 21. September auf die Bildung einer „Regierung der nationalen Einheit“. Acht Tage später wurde Ahmadzai in das Amt des Präsidenten eingeführt, am 30. September unterzeichnete er das Sicherheitsabkommen mit den USA. Das von dort importierte und mit dem Virus der afghanischen Warlords infizierte System am Hindukusch wird weiterhin auf äußerst schwachen Füßen stehen. Dessen politischer, ökonomischer und militärischer Status dürfte der eines vom Westen – vor allem von den USA – abhängigen Protektorats sein.
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