Wie das bürgerliche Vorkriegspolen zwischen alle Stühle fiel
Warschaus Vabanquespiel
Mit der ungerechtfertigten Glorifizierung des bürgerlichen Zwischenkriegspolens wird heute eine genauso unverfrorene Geschichtsfälschung betrieben wie in bezug auf Volkspolen. Vor allem dessen Außenpolitik wird als besonders erfolgreich, weil angeblich unabhängig, gepriesen. Hierbei hebt man die antisowjetische Stoßrichtung besonders hervor. Sie habe Polen einen geachteten Platz in Europa verschafft. Jene Sicht ist heute weit verbreitet, obwohl das Gegenteil in Darstellungen und Dokumenten zutage tritt.
Dem 1918 neu entstandenen Polen wurde nur seine Nordgrenze durch den Versailler Vertrag zugesichert. Um alle anderen Grenzen mußte Warschau bis 1921 kämpfen.
Der Versuch, die Ukraine, Belorußland und Litauen in von Polen abhängige antisowjetische Staaten zu verwandeln – noch immer eine Vorstellung Warschaus – schlug fehl und bescherte dem neuen Staat mit etwa 300 000 Toten fast so viele Opfer wie der 1. Weltkrieg.
Die Ergebnisse dieser Kämpfe brachten Polen weder regionale Stabilisierung noch außen- und innenpolitische Sicherheit: Es war nahezu völlig von Feinden umgeben. Rumänien, das ebenfalls der UdSSR Gebiete geraubt hatte, war der einzige (und wie sich später herausstellen sollte unzuverlässige) Bündnispartner Polens in der Region. Als die Rote Armee 1939 im Osten Polens einrückte, versagte Rumänien die Unterstützung und internierte obendrein auch noch die zunächst nach Bukarest geflohene polnische Regierung.
Deutschland hatte die auf Versailles beruhende polnische Grenze überhaupt nicht akzeptiert. Litauen, dem Polen seine Hauptstadt gestohlen hatte, konnte erst 1938 unter Gewaltandrohung zur diplomatischen Anerkennung Warschaus gezwungen werden. Die UdSSR entwickelte sich daher faktisch zu Litauens Schutzmacht. Dadurch erhielt es 1939 seine Hauptstadt zurück. Ein propolnisches Bündnis der baltischen Staaten gegen die UdSSR kam unter diesen Voraussetzungen nicht zustande. Zudem wollten die Balten, die bei sich die Sowjetmacht mit fremder Hilfe zunächst niedergeschlagen hatten, die UdSSR nicht provozieren. Mehr als freundliche Gesten konnte Polen von ihnen also nicht erwarten.
Die junge Sowjetmacht hatte durch das heute noch zelebrierte „Wunder an der Weichsel“ eine militärische Niederlage und einen demütigenden Friedensvertrag hinnehmen, auf Westbelorußland und die Westukraine verzichten müssen.
Doch dieser überschwenglich gefeierte Pyrrhussieg hatte auch Polen in eine verhängnisvolle Lage gebracht, machten doch diese Territorien etwa die Hälfte seines Staatsgebietes aus. Sie waren in der Mehrzahl von Nichtpolen besiedelt, die entweder einen Anschluß an die Sowjetunion oder einen rechtsbürgerlichen ukrainischen Staat wollten. Hier waren Kommunisten und deren Anhänger weit stärker als im polnischen Kernland. Ihnen verdankte die KP Polens ihre Fraktion im Sejm.
Das Land hatte sich also ein erhebliches innenpolitisches Sicherheitsrisiko eingehandelt, das auch die UdSSR ins Kalkül zog. Schon 1923 signalisierte sie ungeachtet des bestehenden Friedensvertrages in einer Note ihr unvermindertes Interesse an diesen Gebieten. Berlin wie Moskau rechneten im Falle eines Krieges auf die Rückgewinnung dieser Gebiete.
Auch Warschaus Verhältnis zur ČSR war schlecht. Es ging von einem baldigen staatlichen Untergang des südlichen Nachbarn aus und wollte sich an der Beute beteiligen. In Prag dachte man ähnlich über Polen, unterstützte die ukrainischen Nationalisten, gewährte polnischen Kommunisten Asyl und liebäugelte mit einer gemeinsamen Grenze zur UdSSR.
Polen hatte durch seine „Nachkriegskriege“ enorm an politischem Prestige verloren. Während das unterdrückte Land vor dem 1. Weltkrieg die Sympathie der Fortschrittskräfte Europas, vor allem der Arbeiterbewegung – Marx, Engels und Lenin hatten seine Unabhängigkeit gefordert – besaß, galt das Zwischenkriegspolen als Störenfried. So wurde es nicht zum Emigrationsland für Antifaschisten, die vor den Nazis flohen.
Im Gegensatz zu den heute in Warschau am Ruder Befindlichen erkannte die damalige polnische Führung ihre schwache außenpolitische Position und weitgehende Isolierung. Anfangs hoffte man noch, durch ein Bündnis mit Frankreich den Status quo wahren zu können. Doch Paris versuchte schon bald, sich seinen Verpflichtungen zu entziehen. Ende der 20er Jahre konnte Warschau weder gegen Deutschland noch gegen die UdSSR mit Frankreichs Hilfe rechnen.
Auf der Grundlage des 1932 geschlossenen Nichtangriffsvertrages mit der UdSSR und einer 1934 mit Nazi-Deutschland vereinbarten Gewaltverzichtserklärung betrieb Warschau in einer nahezu verzweifelten Situation seine „Politik des gleichen Abstandes“ zu Moskau und Berlin. Damit hatte man sich aber selbst die Hände gebunden. Ein Bündnis gegen Hitlerdeutschland mit der UdSSR oder umgekehrt kam nicht in Frage. So blieben alle europäischen und vor allem sowjetischen Bemühungen um kollektive Sicherheit erfolglos. Die Angst vor der UdSSR lag wie ein Schatten auf der Warschauer Führung und trieb sie letztlich in das Fahrwasser der deutsch-faschistischen Außenpolitik. Polen galt – vor allem nach seiner Komplizenschaft bei der Zerschlagung der ČSR und der Besetzung des Olsa-Gebietes – de facto als Parteigänger der Nazis. Damit verlor es weitere Sympathien auch im Westen. Dennoch hielt Warschau strikt an der Fiktion seines angeblichen unabhängigen Kurses fest.
Als Polen dann durch Hitler massiv bedroht wurde, versprach der Westen pro forma Unterstützung, die man aber von vorneherein nicht zu gewähren gedachte. Auf die zugesagte Hilfe vertrauend und nach wie vor ein Bündnis mit der UdSSR strikt ablehnend, war Polen in der Stunde des faschistischen Überfalls völlig isoliert. Der Illusion einer „von niemandem abhängigen Außenpolitik“ folgten deren Fiasko und damit die nationale Katastrophe.
Nachricht 1739 von 2043