Gabriel Garcia Márquez zu den
Hintergründen einer Konterrevolution
Warum Allende sterben mußte
Im März 1974 veröffentlichte die britische Zeitschrift „New Statesman“ einen Artikel des in Mexiko lebenden kolumbianischen Nobelpreisträgers für Literatur Gabriel Garcia Márquez über die Hintergründe der gegen Allende gerichteten Konterrevolution in Chile, die Rolle der Vereinigten Staaten dabei und den Putsch des Generals Augusto Pinochet. Heute leidet der Hochbetagte an der Alzheimerkrankheit. Um an ihn und sein Werk zu erinnern, brachte der „New Statesman“ Auszüge des seinerzeitigen Beitrags.
Ende 1969 dinierten in Washington drei Pentagon-Generale mit fünf chilenischen Offizieren. Das Thema waren die in Chile anstehenden Präsidentschaftswahlen. Einer der US-Militärs fragte unverblümt, was die chilenische Armee zu tun gedenke, falls Salvador Allende, der Kandidat der Linken, gewinnen sollte. „Wir würden die Moneda (den Präsidentschaftssitz, V. B.) binnen einer halben Stunde besetzen, selbst wenn wir sie in Brand stecken müßten“, lautete die Antwort. Bei weiteren Treffen in Washington und Santiago wurde ein Plan festgelegt, demzufolge die den USA am meisten hörigen Militärs im Falle eines Wahlsieges der Unidad Popular Allendes die Staatsmacht ergreifen würden.
Auf US-Seite war die Defence Intelligence Agency des Pentagons organisatorisch mit im Spiel, die eigentliche Verantwortung aber trug die Naval Intelligence Agency unter Anleitung der CIA und des Nationalen Sicherheitsrates. Die Teilnahme der Navy hatte ihren Grund in den alljährlich stattfindenden gemeinsamen Manövern der US-Seestreitkräfte und der chilenischen Marine im Pazifischen Ozean. Sie ermöglichten es, spezialisiertes Personal und Ausstattungen nach Chile zu befördern, ohne dabei Verdacht zu erregen.
Damals sagte Henry Kissinger zu einer Gruppe Chilenen: „Ich bin nicht informiert und weiß auch nichts über den Teil der Welt südlich der Pyrenäen.“ Zu der Zeit war der Krisenplan in allen Einzelheiten bereits ausgearbeitet, und es erscheint kaum glaubhaft, daß weder Kissinger noch Präsident Nixon darüber Bescheid wußten, konstatierte Garcia Márquez.
Geographisch ist Chile ein ungewöhnliches Land: Etwa 2820 Kilometer lang und von der Küste bis zur inneren Grenze im Durchschnitt 304 Kilometer breit, mit einer lebenslustigen 10-Millionen-Bevölkerung. Davon leben allein 3 Millionen im Großraum Santiago. Haupterzeugnis ist Kupfer von der weltbesten Sorte, wobei das Produktionsvolumen nur von den USA und Rußland überboten wird. Außerdem reift in Chile ein ausgezeichneter Wein, der mit den besten europäischen Sorten durchaus konkurrieren kann. Das Pro-Kopf-Einkommen ist mit 650 US-Dollar das höchste in Lateinamerika, doch traditionell fließt fast die Hälfte des BIP in die Taschen von nur 300 000 Personen.
Selbst die nüchternsten Geographen betrachten Chile nicht als einen Teil des Kontinents, sondern als Ausläufer der Anden, der sich in die neblige See erstreckt und eines Tages im Ozean verschwinden wird.
Trotz allem haben die Chilenen eine bemerkenswerte Zivilisation und politische Reife erlangt, wodurch sie sich von den anderen Ländern des Kontinents unterscheiden. Unter den drei lateinamerikanischen Nobelpreisen für Literatur entfallen zwei auf Chile. Pablo Neruda wird als einer der größten Dichter des 20. Jahrhunderts gepriesen.
Am 4. September 1970 wurde der Sozialist Salvador Allende zum Präsidenten gewählt. Der Sieg der Unidad Popular (Volkseinheit) rief in Washington noch keine besondere Bestürzung hervor. Im Gegenteil: Die Souveränität der neuen Regierung in internationalen Angelegenheiten und ihre entschlossene Wirtschaftspolitik schufen eine positive Atmosphäre. Eine Überprüfung des ins Auge gefaßten Umsturzprojekts ergab, daß es viel zu militärisch ausgerichtet war und, der US-Botschaft in Santiago zufolge, die politischen und sozialen Bedingungen Chiles nicht genügend in Betracht zog.
Im ersten Jahr der Allende-Regierung wurden 47 Industrieunternehmen nationalisiert, zugleich auch der größte Teil der Banken. Die Agrarreform führte zur Enteignung von 6 Millionen Acres Land, das früher Großgrundbesitzern gehört hatte und in gemeinschaftliches Eigentum umgewandelt wurde. Die Inflation konnte verlangsamt werden, die Vollbeschäftigung wurde Wirklichkeit, die Nettolöhne erhöhte man pauschal um 30 %.
Die vorangegangene Regierung des Christdemokraten Eduardo Frei hatte zögernde Schritte zur Nationalisierung der Kupferminen unternommen, was dieser Präsident als „Chilenisierung“ ausgab. Sein Plan bestand darin, 51 % der in der Hand nordamerikanischer Konzerne befindlichen Unternehmen zu kaufen. Für die El-Teniente-Mine allein wurde mehr bezahlt, als deren Buchwert betrug.
Allendes Regierung errang im Parlament die Zustimmung aller Parteien zur entschädigungslosen Nationalisierung sämtlicher Kupfergruben, die von den US-Konzernen Anaconda und Kennecott sowie deren Filialen betrieben wurden. Die Regierung hatte ausgerechnet, daß deren Profite im Laufe von 15 Jahren bei mehr als 800 Millionen US-Dollar lagen.
Die Christdemokraten kontrollierten im Bunde mit dem rechten Flügel der Nationalpartei den Kongreß und die Gerichtsbarkeit, während Allendes Unidad Popular nur über die Exekutive verfügte. Es war bemerkenswert, wie der Katholik und vorherige Präsident Frei die Vorteile im Kampf beider Seiten erblickte, um die Regierung zu destabilisieren und das Land in den Abgrund der Demoralisierung wie des wirtschaftlichen Zusammenbruchs zu stürzen.
Die US-Wirtschaftsblockade erfolgte als Reaktion auf Enteignungen ohne Entschädigung und tat das ihre.
Die chilenische Industrie basiert zu 60 % auf Auslandsinvestitionen, 80 % der benötigten Grundstoffe müssen importiert werden. Außerdem benötigt Chile alljährlich etwa 30 Millionen US-Dollar zur Einfuhr von Konsumgütern und 450 Millionen Dollar zur Schuldendeckung im Ausland.
Doch die Damen der Bourgeoisie zogen – mit Töpfen und Pfannen rasselnd – auf die Straße, um gegen die Rationierung von Bedarfsartikeln und die Geldentwertung zu protestieren. Bei ihnen wimmelte es nur so von zur Schau gestellten Silberfüchsen und Strohhüten mit üppiger Blumendekoration. Dennoch bescherten die Märzwahlen des Jahres 1973 dem Bündnis Allendes einen Stimmenanteil von 44 %.
Ein friedlicher Prozeß in Richtung Fortschritt und soziale Erneuerung – das war für Washington nicht mehr hinnehmbar! Verheerend wirkte sich der von der CIA inszenierte und finanzierte Streik der Lastwagenbesitzer und -fahrer aus, auf deren Gütertransport das langgestreckte Land dringend angewiesen war. Mit ihrem vermutlich nicht gerade zufälligen Ausstand kam ganz Chile zum Stehen. Eine Woche vor dem Umsturz gab es weder Treibstoff noch Milch, noch Brot …
Zwei Tage vor dem Coup gelang es der rechten Opposition, sämtliche hochrangigen Offiziere, die auf seiten Allendes standen, militärisch zu degradieren und an deren Stelle Washington hörige Personen zu setzen. Die Geschichte des chilenischen Streitkräfte beweist, daß sie immer dann in die Politik eingriffen, wenn die herrschende Klasse ihre Interessen bedroht sah.
Ein solcher Staatsstreich konnte nicht unblutig verlaufen. Dessen war sich Allende voll bewußt. Die Blutgier der chilenischen Armee ist notorisch und beruht auf einer 200jährigen Erfahrung im Nahkampf mit den Araukaria-Indianern – den Ureinwohnern des Landes.
Die Chronologie der Intrigen, die dem Coup vorangingen, muß verschiedenen Quellen entnommen werden, die als mehr oder weniger zuverlässig gelten. Eine Vielzahl ausländischer Agenten scheint darin verwickelt zu sein. Nach geheimen Informationen erfolgte die Bombardierung des Regierungspalastes Moneda durch eine Gruppe US-amerikanischer Luftakrobaten, die unter dem Vorwand einer Vorführung zu Chiles Nationalfeiertag, dem 18. September, nach Santiago gekommen waren, nicht aber durch Maschinen der eigenen Luftwaffe. Es gibt auch Beweise dafür, daß Agenten mehrerer Geheimdienste aus Nachbarländern, besonders aus Bolivien und Brasilien, eingesickert und bis zum Tag des Putsches in Deckung geblieben waren. Teile für Brasilien bestimmter US-Anleihen wurden über La Paz nach Chile geschleust, um den Putsch zu finanzieren.
Am 11. September lief die „Operation Unitas“ genau so ab, wie sie drei Jahre zuvor in Washington vereinbart worden war. Auch in diesem erbitterten Endkampf fühlte sich Allende noch immer an Regeln der Legalität gebunden. Er war ein prinzipieller Gegner von Gewalt, zugleich aber auch ein leidenschaftlicher Revolutionär! Als Präsident setzte er auf einen evolutionären Weg zum Sozialismus und begriff zu spät, daß eine Regierung ohne hinreichende Macht das System nicht verändern kann.
Späte Enttäuschung muß den rechtmäßigen Staatschef dazu bewegt haben, das brennende Gebäude sechs Stunden lang zu verteidigen – u. a. mit einer Maschinenpistole, die er von Fidel Castro als Geschenk erhalten hatte.
Gegen 4 Uhr nachmittags vermochten Generalmajor Javier Palazios und sein Adjutant Hauptmann Gallardo den 2. Stock zu betreten. Allende erwartete sie in Hemdsärmeln und ohne Krawatte. An seiner Kleidung sahen sie Blut. Er hielt die Maschinenpistole in Händen.
Der Präsident kannte Palazios und rief „Verräter“, als dieser am Treppenaufgang erschien. Ein Zeuge berichtete, der Präsident sei im Feuerwechsel gefallen. Die übrigen Offiziere traten an den Leichnam heran und feuerten aus ihren Waffen in den leblosen Körper. Schließlich zermalmte einer Allendes Gesicht mit seinem Gewehrkolben.
(Andere Versionen, die dieser Darstellung widersprechen, und später bekannt wurden, waren Garcia Márquez zum Zeitpunkt der Niederschrift seines Artikels natürlich noch nicht zugänglich – RF)
Man spricht vom Foto eines Journalisten der Zeitung „El Mercurio“, das allerdings niemals veröffentlicht wurde. Danach soll das Gesicht Allendes derart entstellt gewesen sein, daß man nicht mal seiner Frau Hortensia gestattete, es zu sehen. Der Präsident war gerade 63 Jahre alt.
Das von Todfeinden der Revolution dominierte Parlament erklärte – den Forderungen der Usurpatoren der Macht entsprechend – Allendes Regierung unverzüglich für illegal.
Übersetzung aus dem Englischen und gedankliche Zusammenfassung des Materials: Dr. Vera Butler, Melbourne
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