Warum die DDR-CDU einem Pastor
zur politischen Heimat wurde
Ein Theologiestudent kurz vor dem Abschluß seines Studiums sitzt im großen Hörsaal der Greifswalder Fakultät und hört aufmerksam einem Vortrag zu. Redner ist der drei Jahre zuvor gewählte Präsident der DDR-Volkskammer Dr. Johannes Dieckmann. Sein Thema lautet: „Die Nationale Front des demokratischen Deutschland und ihr Ruf an uns alle“. Der Politiker, der zu den etwa 80 Anwesenden spricht, ist praktizierender Christ und hat sich als Liberaler der LDP für den Sozialismus entschieden.
Zwei deutsche Staaten stehen sich in sehr unterschiedlichen Machtpositionen und im Ergebnis eines von seinen Verursachern total verlorenen Weltkrieges antagonistisch gegenüber. Im Westen haben die drei Siegermächte – USA, Großbritannien und Frankreich – für die Bildung der BRD gesorgt. Aus der sowjetischen Besatzungszone im Osten ist die DDR hervorgegangen.
Für wen wird sich der zuhörende Student entscheiden, wenn er das Examen abgelegt hat? In welcher Landeskirche wird er seinen Dienst aufnehmen? Die Grenzen sind offen, das Hin und Her der Bürger von West nach Ost oder in umgekehrter Richtung erfolgt reibungslos, aber der Antagonismus besteht weiter.
Der suchende, für gesellschaftliche Aufgaben offene Absolvent beginnt seinen Dienst in der Berlin-Brandenburgischen Landeskirche und übernimmt zwei Jahre nach dem 17. Juni 1953 eine Pfarrstelle mit vier Gemeinden im Havelland. Er erlebt die komplizierte politische Situation in der DDR und fragt sich nach der eingeleiteten Reform, ob die gesellschaftliche Mitarbeit beim Aufbau des Sozialismus für ihn und die ihm anbefohlenen Christen seiner Gemeinden ebenfalls Auftrag und Ziel sein kann.
Es kommt zu einer zweiten entscheidenden Begegnung, diesmal mit einem stellvertretenden Ministerpräsidenten der DDR: dem CDU-Vorsitzenden Otto Nuschke. Zur Einweihung eines Dorf-Warenhauses erscheint der ranghohe Politiker in einer Gemeinde, deren Bürgermeisterin ebenfalls der CDU angehört.
Wer Otto Nuschke erlebt hat, weiß um die Überzeugungskraft, Klarheit, Logik und Wirkung seiner Worte. Was ihn besonders ausgezeichnet hat, war seine entschiedene christliche Glaubenshaltung. In den Wirren des 17. Juni von Westberliner Provokateuren an der Oberbaumbrücke in seinem PKW in den Westen geschoben, bekennt sich Otto Nuschke zum Sozialismus, wird nicht zum Kollaborateur und kehrt an seinen Arbeitsplatz in der DDR zurück.
Das Ergebnis des längeren Gesprächs zwischen dem jungen Pfarrer und dem hohen Staatsmann war der Entschluß des Erstgenannten, Mitglied der CDU zu werden und in der Nationalen Front als der Plattform einer demokratischen Entwicklung, die der formellen Demokratie des Westens diametral entgegengesetzt war, mitzuarbeiten.
Der dann folgende Weg über Jahrzehnte des Lebens war für mich nicht immer einfach. Ich wollte Pfarrer und Seelsorger bleiben. Jegliche Ambition, kirchlich oder politisch Karriere zu machen, war mir fremd, obgleich ich manche Möglichkeiten dazu gehabt hätte. Die Gedanken – Folgerungen aus der Geschichte wie der jüngsten Vergangenheit nach dem Zweiten Weltkrieg –, die Dieckmann und Nuschke motivierten, haben meine Entscheidungen stark beeinflußt.
Die politische Überzeugung stimmte allerdings auch mit meiner Arbeit als Geistlicher, die von der theologischen Erkenntnis Karl Barths und Dietrich Bonhoeffers innerlich getragen war, ganz wesentlich überein. Als 1964 die Dietrich-Bonhoeffer-Kapelle in meiner Gemeinde Kienberg durch Generalsuperintendent Dr. Lahr aus Potsdam geweiht wurde, kam dies in besonderer Weise zum Klingen.
Die Arbeit in der Nationalen Front wurde immer vom Miteinander aller politischen Parteien und bereitwilligen Menschen getragen, denen der sozialistische Weg als der richtige erschien. Das Gegeneinander der verschiedenen Parteien im demokratischen Formalismus des Westens, entscheidend gelenkt vom Kapital und dessen Einflußnahme auf die gesamte wirtschaftliche Kraft, halte ich ethisch für nicht verantwortbar. Im Sinne eines Tätigwerdens für das angestrebte Wohl der Menschen kann nur der Sozialismus zur Maxime politischen Handelns werden.
War dies der Weg der DDR bis 1989/90? Aus meiner Sicht können sich die Erfolge einer 40jährigen Aufbauarbeit, wenn man die Elle des Weltmaßstabs anlegt, durchaus sehen lassen. Das Wirtschaftspotential der BRD, die sich seit dem Marshallplan auf die kompakte Kraft des westlichen Kapitalismus stützen konnte, war dreimal größer als das der DDR. Mit ihm war in vier Jahrzehnten nicht gleichzuziehen. In dieser Frage haben sich die Genossen oft geirrt, aus Euphorie politisch falsch argumentiert und gehandelt. Manche von ihnen schossen über das Ziel hinaus und blieben nicht auf dem Boden der Tatsachen. Doch die führende politische Kraft im Block der fünf Parteien mußte die SED sein. Wir haben auf Kreis- und Bezirksebene in der Nationalen Front gute, bisweilen aber auch bedrückende Erfahrungen gemacht.
Für ein Volk ist es besser oder vernünftiger, Politik und Zusammenleben so zu gestalten, daß man sich in den Parlamenten nicht im Gegeneinander der Meinungen bis aufs Messer streitet. Ist angesichts des Parteienhaders und intrigengeladenen Gerangels einerseits oder des Duckmäusertums andererseits nicht eine vernünftige Blockpolitik zum Wohle aller der bessere Weg?
Hier spielt ein Freiheitsbegriff hinein, der politisch, ja auch weltanschaulich höchst fragwürdig ist. Das habe ich bei Karl Barth und im Handeln Dietrich Bonhoeffers mit Blick auf dessen Widerstand im Dritten Reich gelernt. Die Kirchen in der DDR hatten es im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung erkannt. Die Gespräche, die während der 40jährigen Existenz der DDR zwischen dem Staat und den Vertretern der Religionsgemeinschaften stattfanden, erfuhren durch die Begegnung der Leitung des Kirchenbundes unter Bischof Schönherr mit dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker am 6. März 1978 ihren Höhepunkt. Eine wesentliche Vorarbeit dazu leistete übrigens auch der spätere Ministerpräsident des Landes Brandenburg Manfred Stolpe.
Unsere Arbeit an der Basis hat sich gelohnt. Wir haben nie taktiert oder manövriert, sondern stets riskiert, gehandelt und – nach einem alten prophetischen Wort der Bibel – „der Stadt Bestes“ gesucht. Dabei war die CDU der DDR unsere politische Heimat. Mit 32 000 Unterschriften praktizierender christlicher Bürger und Amtsträger, die 1961 dem Staatsrat übergeben wurden, bekundeten diese ihre Bereitschaft, am Aufbau des Sozialismus aktiv mitzuwirken.
Im 88. Lebensjahr stehend, werde ich den Wechsel der Systeme in der vor uns aufblitzenden Zukunft nicht mehr erleben. Doch das, was wir derzeit wahrnehmen, deutet auf politische und wirtschaftliche Krisen ohne Ende hin. Die heute in vielen Ländern Mächtigen besitzen kein Rezept, nach dem sinnvoll zu handeln wäre. Menschen, welche eine Politik durchdringend sozialen Tätigwerdens zum Wohle aller verfolgen, werden jene Erkenntnisse neu zu gestalten haben, die einst in der DDR geprägt worden sind.
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