RotFuchs 234 – Juli 2017

Warum die Revolution
bis heute bekämpft wird

Dr. Kurt Laser

Im Zusammenhang mit dem 60. Jahrestag der Europäischen Union spielten auch historische Reminiszenzen eine Rolle. Da wurde zum Beispiel an den Streit zwischen Lenin und Trotzki erinnert. Lenin schrieb am 23. August (5. September) 1915 im „Sozialdemokrat“ Nr. 44: „Vom Standpunkt der ökonomischen Bedingungen des Imperialismus, d. h. des Kapitalexports und der Aufteilung der Welt durch die ‚fortgeschrittenen‘ und ‚zivilisierten‘ Kolonialmächte sind die Vereinigten Staaten von Europa unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär.“ (LW 21/343)  Lenin wies in diesem Artikel darauf hin, daß das Kapital international und monopolistisch geworden und die Welt aufgeteilt sei „unter ein Häuflein von Großmächten, d. h. von Staaten, die in der großangelegten Ausplünderung und Unterdrückung der Nationen die größten Erfolge zu verzeichnen haben.“ (LW 21 s.o.)

Der abgeschlagene und beschädigte Kopf Lenins (vom großen Lenin-Denkmal Nikolai Tomskis am heutigen Platz der Vereinten Nationen in Berlin) ist ein Mahnmal der Kulturbarbarei und des Antisowjetismus.

Der abgeschlagene und beschädigte Kopf Lenins (vom großen Lenin-Denkmal Nikolai Tomskis am heutigen Platz der Vereinten Nationen in Berlin) ist ein Mahnmal der Kulturbarbarei und des Antisowjetismus.

Es ist nun über einhundert Jahre her, als Lenin das schrieb. Doch leider scheint sich im Vergleich zu damals nicht viel verändert zu haben, denn der erste Versuch, eine sozial gerechte sozialistische Gesellschaft aufzubauen, ist ja leider gescheitert. Damals verfügten die europäischen Großmächte Europas (England, Frankreich, Rußland und Deutschland – die USA kamen erst später hinzu) mit einer Bevölkerung von 250–300 Millionen und einem Territorium von zirka sieben Millionen Quadrat­kilometern über Kolonien mit einer Bevölkerung von fast einer halben Milliarde und einem Territorium von 64,6 Millionen Quadratkilometern. Lenin nahm noch die drei asiatischen Staaten China, die Türkei und Persien (Iran) hinzu. Damals waren das faktisch Halbkolonien, die, wie Lenin schrieb, von den im „Befreiungskampf“ stehen­den Räubern Japan, Rußland, England und Frankreich in Stücke gerissen wurden. Heute sind es Länder, die in der internationalen Politik ein gewichtiges Wort mit­sprechen. An ihrer Stelle sind der Irak, Libyen und Syrien zu nennen, die „in Stücke gerissen werden“. Hauptverantwortlich für das dort angerichtete Chaos sind die USA, die zusammen mit ihren NATO-Verbündeten angeblich im Kampf um die Durchset­zung der Menschenrechte stehen.

Ferner – so Lenin weiter – hätten England, Frankreich und Deutschland im Ausland mindestens 70 Milliarden Rubel investiert. Um das „legitime“ Einkommen aus dieser Summe – eine Jahreseinnahme von über 3 Milliarden Rubel – zu bekommen, seien „die Millionärsausschüsse da, Regierungen genannt“. Heute sind die Summen um ein Vielfaches größer.

Im Zeitalter der höchsten kapitalistischen Entwicklung sei die Ausräuberung von rund einer Milliarde Erdbewohnern durch ein Häuflein von Großmächten organisiert. Die Erdbevölkerung ist inzwischen weiter gewachsen, die Ausplünderung der „Dritten Welt“ überschreitet jedes Maß. Lenin stellte fest, daß unter dem Kapitalismus jede andere Organisation unmöglich sei. Auf Kolonien, auf „Einflußsphären“ und Kapital­export verzichten? fragte er und antwortete: Daran zu denken, hieße, „auf das Niveau des Pfäffleins herabsteigen, das jeden Sonntag den Reichen die Erhabenheit des Christentums predigt und ihnen rät, den Armen zu geben … nun, wenn nicht ein paar Milliarden, so wenigstens ein paar hundert Rubel im Jahr“. (LW 21/344) Die Verei­nigten Staaten von Europa waren nach Lenin unter kapitalistischen Verhältnissen gleichbedeutend mit einem Übereinkommen über die Teilung der Kolonien. Unter kapitalistischen Verhältnissen sei jede andere Basis, jedes andere Prinzip als das der Teilung der Macht unmöglich. Zum Zeitpunkt der EG-Gründung verfügte Frankreich noch über Kolonien und mußte diese nicht mit den anderen Partnern teilen. An die Stelle des direkten Kolonialismus ist heute der Neokolonialismus getreten, und die Ausplünderung von Ländern der sogenannten Dritten Welt wird noch stärker ver­schleiert als früher.

Zeitweilige Abkommen zwischen den Kapitalisten und zwischen den Mächten sah Lenin als möglich an, aber nur als Übereinkommen der europäischen Kapitalisten darüber, wie man mit vereinten Kräften den Sozialismus in Europa unterdrücken, die geraubten Kolonien gegen Japan und die USA verteidigen könnte, die durch die damalige Aufteilung benachteiligt waren.

Um die tatsächliche Macht eines Staates zu prüfen, gebe es und könne es laut Lenin kein anderes Mittel geben als den Krieg. Der Krieg sei kein Widerspruch zu den Grundlagen des Kapitalismus, sondern das direkte und unvermeidliche Entwicklungs­ergebnis dieser Grundlagen. Nun haben zwischen Mitgliedsländern der EU keine Kriege mehr stattgefunden. Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Frankreich erfolgten nicht mehr wie jahrhundertelang auf militärischem Gebiet, aber Mitgliedsländer der EU wie Frankreich führten blutige Kolonialkriege.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion konnte die NATO auch wieder in Europa Krieg führen und Jugoslawien zerschlagen. Deutschland beteiligte sich daran. Während die Sozialdemokraten 1914 „nur“ für die Kriegskredite stimmten, waren sie beim Überfall auf Jugoslawien zusammen mit den Grünen in der Regierungsverantwortung.

Lenin stellte fest, daß unter dem Kapitalismus das gleichmäßige Wachstum in der ökonomischen Entwicklung der einzelnen Wirtschaften und in einzelnen Staaten unmöglich sei. Daraus zog er die Schlußfolgerung, daß der Sieg des Sozialismus ursprünglich in wenigen kapitalistischen Ländern oder sogar in einem einzeln genommenen Lande möglich sei. Das siegreiche Land würde sich nach Enteignung der Kapitalisten und nach Organisierung der sozialistischen Produktion im eigenen Land der übrigen, der kapitalistischen Welt entgegenstellen und würde die unter­drückten Klassen der anderen Länder auf seine Seite ziehen, in ihnen den Aufstand gegen die Kapitalisten entfachen und im Notfall sogar mit Waffengewalt gegen die Ausbeuterklassen und ihre Staaten vorgehen. Die politische Form, in der das Proleta­riat siege, indem es die Bourgeoisie stürze, werde die demokratische Republik sein.

Die sozialistische Revolution siegte zunächst in einem Land, und die Armeen von 14 imperialistischen Staaten unterstützten die einheimische russische Konterrevolution und trieben das Land in einen blutigen Bürgerkrieg, den Sowjetrußland damals sieg­reich beendete. Wenn man von der Mongolischen Volksrepublik absieht, blieb die Sowjetunion bis 1945 allein und besiegte trotzdem das schlimmste Regime der Weltgeschichte, den deutschen Faschismus. Danach wurden gewaltige Aufbau­leistungen vollbracht, und auf einigen Gebieten der Wissenschaft, wie der Weltraum­technik, wurde sogar die Weltspitze erreicht. Aber es gelang nicht, die kapitalisti­schen Länder bei der Arbeitsproduktivität zu überholen und die Herausforderungen der wissenschaftlich-technischen Revolution zu bewältigen. Die USA haben das Land außerdem ganz bewußt totgerüstet.

Obwohl heute nichts auf eine unmittelbar bevorstehende revolutionäre Situation hin­deutet, haben die Kapitalisten große Angst, daß es noch einmal zu einer sozialis­tischen Revolution kommen könnte. Deshalb wird von ihren Ideologen und Lohn­schreibern nichts ausgelassen, um die Oktoberrevolution in Rußland anläßlich ihres 100. Jahrestages zu verunglimpfen.