RotFuchs 221 – Juni 2016

Warum in der Alt-BRD
der 17. Juni gefeiert wurde
und warum Bodo Ramelow
daran anknüpft

Prof. Dr. Horst Schneider

Wer die Geschichte erst 1989 oder kurz zuvor beginnen läßt, kann nicht anders, als gedanklich zu kurz zu springen.“(1) Willy Brandts Bemerkung gilt auch für das offizielle Gedenken an den 17. Juni 1953 in der Alt-BRD. Der Fakt: Von 1954 bis 1990 wurde jenes Tages, der seine Spuren in der DDR hinterließ, mit Reden im Bundestag gedacht, die von ungezählten Medienreaktionen begleitet wurden. Der politisch interessierte DDR-Bürger hat die Medienschlacht über die Wertung des 17. Juni verfolgt, zumal, wenn er, wie ich, in die Auseinandersetzungen hineingeriet. Ich war damals Direktor der Grundschule II in Niesky und erlebte, wer die DDR weghaben wollte, und wer sie verteidigte. In Niesky wurde im nachfolgenden Prozeß nachgewiesen, daß an der Spitze der Plünderer und Provokateure alte Faschisten agiert hatten. Seit 1953 wird kontrovers über das Geschichtsbild um den 17. Juni gestritten. Die Soldschreiber des Kapitals feierten den „Volks“- oder Arbeiteraufstand. Hauptziel war und ist es, die DDR-Politik zu verteufeln. Das geschah auch und richtungsweisend bei den staatlich verordneten Gedenkfeiern von 1954 bis 1990. Wenn nun Bodo Ramelow als „linker“ Ministerpräsident den 17. Juni als staatlichen Gedenktag wieder einführen will, ergibt sich die Frage: Welche Tradition will der thüringische Ministerpräsident fortsetzen, und welche Ziele verfolgt er dabei? Ein Blick auf die Tradition der Gedenktage hilft uns bei der Antwort.

Der Leser merke auf! Das Ereignis, dessen bis 1990 in Bonn gedacht wurde, trug sich in einem anderen Staat zu, dessen Souveränität zu achten war – durch die BRD spätestens nach dem Grundlagenvertrag von 1972 und der gleichzeitigen Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO 1973. Es galt das Verbot der Einmischung in innere Angelegenheiten. Wie war das jahrzehntelang möglich? Warum organisierte die BRD „staatlich verordnete“ Gedenkfeiern am 17. Juni?

Antikommunistische Randalierer und Brandstifter auf dem alten Markt in Leipzig (17. Juni 1953)

Antikommunistische Randalierer und Brandstifter auf dem alten Markt in Leipzig (17. Juni 1953)

Dietmar Schiller informierte uns über „das Verhältnis von öffentlicher Erinnerung und politischer Kultur“(2): „Die wichtigsten politischen Funktionen, die nationale Feier- und Gedenktage erfüllen sollen, sind Staatsintegration, Identifikation mit dem politischen System, Konsensstiftung, Erschaffung von Massenloyalität und Stabilitätssicherung. Die Frage ist also: Wie konnten die Feiern im Bundestag und das sie begleitende Medienecho die genannten ,Funktionen‘ erfüllen helfen?“ Versuchen wir, die Frage zu beantworten, wobei wir uns von Alexander Gallus helfen lassen.(3)

Das Gesetz, das den 17. Juni zum „Nationalfeiertag des deutschen Volkes“ erhob, war vor allem ein Kind der SPD und Willy Brandts und trat bereits am 4. August 1953 in Kraft. Damit waren andere Vorschläge vom Tisch, z. B. den 23. Mai 1949 als Verfassungstag zu würdigen (Vorschlag Annemarie Renger) oder an den 18. März 1848 zu erinnern (Heinrich Albertz). Allerdings bestand die „Gefahr“, daß der 17. Juni von vielen als zusätzlicher Feiertag genutzt würde.

Mit dem gegen den Protest der Kommunisten angeordneten Feiertag entstand ein Konflikt, der bis heute andauert. Die SPD betrachtete die „Wiedervereinigung“ als höchste Priorität und verwendete ihre Interpretation des 17. Juni zunächst als politische Waffe gegen die Politik Adenauers. Die CDU deutete den 17. Juni als Bestätigung ihrer Politik der Westintegration. CDU und SPD stimmten überein: Die Westdeutschen sollten die Ereignisse als Widerstand der ostdeutschen „Schwestern und Brüder“ gegen das „kommunistische Regime“ und dessen „Totalitarismus“ wahrnehmen. Die unterschiedlichen Interpretationen spiegelten sich auch in den Gedenkreden wider.

In den Jahren von 1954 bis 1967/68 waren die Reden am 17. Juni im Bundestag jeweils vor allem Ausdruck und Instrument des kalten Kriegs. Sie folgten der Roll-back-Konzeption, in der für die DDR keine Zukunft vorgesehen war.(4)

Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre waren vor allem Intellektuelle, darunter mehrere Historiker, Festredner: Franz Böhm (1954), der Erzkonservative Historiker Gerhard Ritter (1955), Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier (1956), der Philosoph Theodor Litt (1957), der Christsoziale Hanns Seidel (1958), der Historiker Werner Conze (1959), Ulrich Mann (1960), der Rechtsaußen Helmut Thielicke (1962), der Staatsrechtler Hans Peters (1963), der Historiker Theodor Schieder (1964) und sein Historikerkollege Karl Erdmann (1965).

Obgleich es in jeder Rede unterschiedliche Nuancen gab, darf wohl ein Satz Schieders als roter Faden der Reden der ersten zehn Jahre nach dem 17. Juni 1953 gelten: „Es muß dabei bleiben: Die deutsche Teilung hat keine Wahrheit in der deutschen Geschichte und in der Geschichte Europas, sie ist eine von außen aufgelegte Last. Sie darf sich daher auch keine Wahrheit durch Gewohnheit, Nachlässigkeit, durch Anpassung an äußeren Zwang oder durch Resignation erborgen.“(5) Die Sache war für Schieder also einfach: Die Existenz der DDR widersprach der „historischen Wahrheit“.

Als Theodor Schieder die Rede hielt, war die Losung Brandts und Bahrs vom „Wandel durch Annäherung“ (1963) schon in die Welt gesetzt und beeinflußte in einem widerspruchsvollen Prozeß auch die Politik. Nach der großen Koalition entstand die Brandt-Regierung, die den Kurs auf Entspannung steuerte, auch gegenüber der DDR. Die friedliche Koexistenz zwischen beiden deutschen Staaten wurde auf die Tagesordnung der Geschichte gesetzt. Mit der Ära Brandt begann eine neue Phase der Wahrnehmung des 17. Juni. Die Friedenssicherung hatte Vorrang vor der Forderung nach der Einheit. Am 17. Juni 1968, dem 15. Jahrestag des „Volksaufstands“, fand kein Festakt statt. Natürlich wirkte sich die neue „Wahrheit“ auch auf die Reden zum 17. Juni aus. Schon am 17. Juni 1969 trat Walter Scheel dafür ein, den „staatlichen“ oder „quasistaatlichen Charakter“ der DDR anzuerkennen.(6)

Das Ritual zum 17. Juni lockerte sich, z. B. fand 1973 abermals keine Gedenkveranstaltung statt, 1974 konnten sich Regierung und Opposition über die Gestaltung nicht einigen, und auch in den Folgejahren fielen die Reden aus unterschiedlichen Gründen wiederholt aus. Der Streit, ob und wie die Gedenkveranstaltungen weitergeführt werden sollten, spitzte sich zu. Das spiegelte sich auch in den gehaltenen Reden, so in denen von Wolfgang Mischnick (1975) und Helmut Schmidt (1977), wider. Schmidt resümierte, daß das Pathos der Reden der früheren Jahre bei Jüngeren eher zu Gleichgültigkeit geführt habe.(7)

In den achtziger Jahren kam es zu einer Art Renaissance der Feiern zum 17. Juni. Einer der Gründe dafür war, daß die Kohl-Regierung die Erinnerung an den 17. Juni als „staatlich verordnete“ Rechtfertigung für ihre Politik brauchte, als man noch vorgab, die von Brandt vorgezeichnete Politik gegenüber der DDR fortzusetzen.

Der „Rechtsruck“ der Erinnerungspolitik in Kohls Regierungszeit war unübersehbar. Redner in den achtziger Jahren waren u. a.: Johann Baptist Gradl, der sich 1989 als „Zeitzeuge“ drapierte, der damalige Hamburger Bürgermeister Herbert Wichmann (1982), Ex-Bundespräsident Karl Carstens (1983), Gerhard Schröder (1984), Gerhard Leber (1985), Walter Scheel (ein zweites Mal; 1986), der aus Deutschland emigrierte USA-Historiker Fritz Stern (l987) und der Jurist Roman Herzog (1988). Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts erklärte u. a.: „Natürlich ist die DDR heute kein stalinistischer Staat mehr, natürlich gibt es heute dort die oft zitierte Identifikation mit dem Staat – wenn auch nicht mit dem System –, und das kann ja, wenn man vernünftig denkt, auch gar nicht anders sein.

Die Deutschen in der DDR betrachten diesen Staat, seinen bescheidenen Wohlstand und seine Rolle in der Welt als ihre eigene Leistung, auf die sie mit Recht stolz sein können, schon deshalb, weil ihr politisches System den Aufstieg anders als das unsere nicht gefördert, sondern ständig behindert hat. Sie hatten es also schwerer als wir, und entsprechend größer ist auch ihre Genugtuung über das, was sie geschaffen und geleistet haben.“(8) Hat Roman Herzog als Bundespräsident je ähnliches gesagt? 1989 war Erhard Eppler Festredner. Eppler hielt die Rede zwei Tage nach einem Treffen zwischen Helmut Kohl und Michail Gorbatschow. Gorbatschow machte auf einer Pressekonferenz am 15. Juni in Bonn deutlich, daß eine Lösung der deutsch-deutschen Frage im Sinne einer Vereinigung nicht auf der Tagesordnung stehe. „Die Situation in Europa, die wir heute haben, ist eine Realität.“ Die Mauer könne nur verschwinden, „wenn jene Voraussetzungen entfallen, die sie ins Leben gerufen haben“. Gorbatschow formulierte in diesem Zusammenhang lediglich die vage Hoffnung, „daß die Zeit selbst über das Weitere bestimmen wird“.

Helmut Kohl mied das Thema „Wiedervereinigung“. In dieser Situation sprach Eppler, der an der Erarbeitung des „Dialog-Papiers“ führend beteiligt gewesen war, über den 17. Juni. Die Ereignisse vom 17. Juni 1953 berührte er nur. Schwerer wog seine Forderung nach einer vorwärtsgewandten und von überholten Begriffen geläuterten Politik. Eppler plädierte zum Beispiel dafür, die Frage des künftigen Verhältnisses beider deutscher Staaten vom Begriff der „Wiedervereinigung“ zu trennen. Es gelte, deutlich zu machen, „daß wir nicht Vergangenes restaurieren, sondern Neues schaffen wollen, und zwar gemeinsam mit unseren Nachbarn“. Erhard Eppler forderte vor dem Parlament, die Situation so anzuerkennen, wie sie ist und die Existenzberechtigung der DDR nicht infrage zu stellen. Dennoch wies er all jene in die Schranken, die die Einheit des Landes schon abgeschrieben hätten. Er wandte sich aber auch gegen den Begriff vom „Verrat“ in diesem Zusammenhang: „Weder hat Adenauer die deutsche Einheit noch Brandt die deutschen Ostgebiete verraten“, stellte er fest und zog so scheinbar einen Schlußstrich unter den bis dahin prägenden Streit in der Bewertung der Deutschlandpolitik Adenauers und Brandts. Der Applaus aller Fraktionen des Bundestages war ihm sicher.

Die Rechtsaußen Alfred Dregger und Wolfgang Bötsch gratulierten Eppler persönlich. Die Rede Erhard Epplers am 17. Juni 1989 hätte in der DDR alle Alarmglocken schrillen lassen müssen. Eppler forderte dazu auf, darüber nachzudenken, „was in Deutschland geschehen soll, wenn der Eiserne Vorhang rascher als erwartet durchrostet“.(9) Den Schlußpunkt der Bundestagsreden zum 17. Juni setzte 1990 Manfred Stolpe. Er betrachtete sich selbst offenbar als die Personifizierung der „Opposition“ in der DDR und sah den Herbst 1989 in der Kontinuität des 17. Juni und als seine siegreiche Krönung.(10) Die Sichtweise Stolpes ist ein Grundzug der Wertungen des 17. Juni, weil sie in das Totalitarismus-Schema paßt: Die gute BRD hat gegen die böse DDR gekämpft und gesiegt. Damit schließt sich der Kreis. Wir sind der Antwort auf die Frage näher gekommen: Warum wurde in der BRD der 17. Juni zum nationalen Gedenktag erklärt?

Er hat zur „Staatsintegration“ der BRD-Bürger auf antikommunistischer Grundlage beigetragen, was dadurch erleichtert wurde, daß die vor 1945 herrschende Ideologie nicht überwunden wurde.

Er hat westlich der Elbe die „Identifikation mit dem politischen System“ gefördert, indem den Bürgern die „Alternativen“ Demokratie – Diktatur, Freiheit – Sozialismus suggeriert wurden.

Er hat zur „Konsensstiftung“ in der politischen Klasse der BRD beigetragen und kritische Stimmen isoliert und eliminiert.

Er hat „Massenloyalität und Stabilitätssicherung“ innerhalb der BRD befördert. Damit hat das Gedenken an den 17. Juni im Bundestag und in den Medien die Kriterien erfüllt, die Dietmar Schiller formuliert hatte.

Nun ist die DDR nicht mehr da, wohl aber ein Teil der Bürger, die den 17. Juni 1953 noch erlebt haben, z. T. als Akteure auf dieser oder jener Seite der „Barrikade“. Um den 17. Juni wird wie schon 2003 (damals unter Eppelmanns Kommando) ein großes Gewese organisiert werden.

Warum? Damit besser „zusammenwächst, was zusammengehört“? Weil die „innere Einheit“ befördert wird, wenn die Gehirnwäsche zum 17. Juni das eigene Gedächtnis und die eigene Erfahrung ersetzt? Die Organisatoren des Medienspektakels „17. Juni“ sollten bedenken: Die „Opposition“ von 1953 war eine Minderheit, nicht das „Volk“. Das war auch im Herbst 1989 so, auch wenn mit Hilfe westdeutscher Medien die Minderheit – zeitweilig – zum Elefanten „Volk“ aufgeblasen wurde. Es gibt einige bundesdeutsche Politiker und Publizisten, die sich trauen, darauf aufmerksam zu machen, daß die Erinnerung an den 17. Juni ein zweischneidiges Schwert ist. Am 17. Juni 2010 hielt Gesine Schwan die Gedenkrede(11) und fragte: „Steht uns im vereinigten Deutschland ein neuer 17. Juni bevor? Sicher nicht. Doch daß es unter der Oberfläche gärt, kann keiner abstreiten.“ Gesine Schwan machte auf viele Symptome aufmerksam: „Ein Gefühl der Ohnmacht und der Ungerechtigkeit hat sich in unserer Demokratie ausgebreitet.“

Ein Vergleich der Lage in der DDR vor dem 17. Juni 1953 mit der heutigen Situation könnte für Linke durchaus nützlich sein (die politische Klasse beobachtet sie genau.) Eine Frage würde lauten: Warum kommt es noch nicht zu Aktivitäten derjenigen, deren Lebenslage sich ständig verschlechtert? Es könnte Bumerangwirkung haben, wenn Streiks und Demonstrationen zu Heldentum verklärt werden, solange sie sich gegen die DDR richteten, nun aber des Teufels sind. In dieser Situation, in der die Linke den Protest artikulieren und organisieren müßte, besinnt sich Ramelow auf die bürgerliche Interpretation des 17. Juni und setzt sie fort. Er spaltet die Linke und reiht sich ein in die Division jener Ideologen, die die DDR verteufeln, um jeden Gedanken an den Sozialismus zu tilgen. Aber „Die deutsche Geschichte geht weiter“. (Richard von Weizsäcker)

Quellen:

  1. Willy Brandt: Dresdner Rede am 23. Februar 1992
  2. Dietmar Schiller:
    Politische Gedenktage
    Zum Verhältnis von öffentlicher Erinnerung und politischer Kultur,
    „Aus Politik und Zeitgeschichte“, Nr. 25/1993, S. 32
  3. Alexander Gallus:
    Der 17. Juni im deutschen Bundestag von 1954 bis 1990,
    a. a. O., S. 12 f.;
    Myriam Renaudot:
    Der siebzehnte Juni,
    in Martin Sabrow: Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 332 f.;
    Darstellungen, die der offiziellen Sicht auf den 17. Juni widersprechen und nachweisen, daß es sich damals um einen gescheiterten konterrevolutionären Putsch gegen die DDR gehandelt hat:
    - Hans Bentzien: Was geschah am 17. Juni? Vorgeschichte. Verlauf. Hintergründe, Berlin 2003;
    - Spurensicherung. Zeitzeugen zum 17. Juni 1953, Schkeuditz 1999
  4. Texte der Reden in den Bundestagsprotokollen und in den Bulletins des
    Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung
  5. Rede Schieders in: Bulletin … 96/1964, 20. Juni 1964, S. 896
  6. Deutscher Bundestag, 5. Wahlperiode, Bd. 70, S. 13284 B
  7. Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, Bd. 101, S. 2453 B
  8. Bulletin … 84/1988, S. 794
  9. Alexander Gallus a. a. O., S. 21
  10. Ebenda
  11. Gesine Schwan:
    Rede zum 17. Juni 2010,
    in „Das Parlament“, Nr. 25/26, 2010, S. 15