„Wir waren so bescheuert zu glauben,
Einheit sei Westdeutschland plus DDR“
Was aus zerronnenen Hoffnungen wurde
Liebe besorgte Bürgerinnen und Bürger! Wie viele von Euch bin ich männlich, mittleren Alters, Ostdeutscher, habe eine Familie und einen Kleingarten. Einen Hund haben wir auch.
Früher, in der DDR, fand ich vieles schlecht genug, um mich der Friedens- und Ökologiebewegung der evangelischen Kirche anzuschließen. So ganz schlecht erschien mir die DDR dann aber doch nicht, außerdem war ihr Ende lange nicht abzusehen. So habe ich andererseits auch mitgemacht, beispielsweise in der FDJ.
Der Untergang der DDR hat mich dann auch sehr traurig gemacht – und zwar gerade wegen der neu gewonnenen Freiheit. Ich fand, Freiheit und Sozialismus seien eine schöne Kombination. Die meisten von uns sahen das aber deutlich anders.
„Einkäufer“ und „Ausverkäufer“:
Helmut Kohl und Lothar de Maizière
Ich kann mich noch ziemlich gut an die Nacht zur Währungsunion erinnern – an die Autokorsos und die Schlange vor der Filiale der Deutschen Bank am Alexanderplatz in der großen Stadt Berlin, in die ich inzwischen gezogen war; an Menschen, die Geldscheine küßten, an Jubel und Alkohol. Ich habe mich damals ein bißchen, ja eigentlich ziemlich doll für uns geschämt, und dafür, daß wir uns unsere Revolte so billig haben abkaufen lassen. „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr.“ Das waren so Sprechchöre auf den Demonstrationen, als das Demonstrieren nichts mehr kostete. Habt Ihr auch noch die Fernsehbilder aus der Prager Botschaft und vom Treck der zu Fuß über die ungarische Grenze Flüchtenden vor Augen? Ein bißchen gleichen die Bilder denen von der Balkanroute, findet Ihr nicht auch?
Dann kamen nach der schnellen Vereinigung die 90er Jahre – und da war vielen von uns nicht mehr nach Jubeln zumute. Massenhaft schlossen Betriebe; Versicherungsfuzzis, Otto-Kataloge und Lockangebote zu Butterfahrten überschwemmten die ostdeutschen Provinzen. Die zweite, dritte und vierte „Garde“ der westdeutschen Gesellschaft, also all jene, die drüben nichts geworden waren und die Buschzulage reizvoll fanden, kamen herüber und erklärten uns ihre Welt, die nun auch die unsere werden sollte. So hatten wir das ja durch Wahlen zum Ausdruck gebracht.
Damals sind dann Sprüche entstanden wie „Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm, beim Wessi ist es andersrum“. Auch der Begriff des „Besserwessis“ tauchte auf. Das war dann so unsere Art, dem verletzten Stolz Ausdruck zu geben, unsere Faust in der Tasche zu ballen. Es war schon eine blöde Situation. Erst haben „wir“ dem Kohl zugejubelt und die Einheit geradezu herbeigenötigt, um dann festzustellen, wie bescheuert wir waren zu glauben, Einheit, das sei Westdeutschland plus DDR. Aber da kamen wir nun nicht mehr raus. Und da wir die Schuld für unsere Lage nicht uns selbst geben wollten, begannen wir, uns betrogen zu fühlen, empfanden uns als Menschen zweiter Klasse und irgendwie als Verlierer der Geschichte. Dabei hatten wir doch gerade erst das angeblich Größte – die Freiheit – gewonnen. Aber wenn Freiheit darin bestand, neidvoll und arbeitslos die Autos der anderen zu bestaunen und zu Hause Furchen in den Teppich zu ziehen, dann machte uns das irgendwann doch ziemlich wütend. Schließlich wollten wir in unserer Würde und unseren Leistungen auch anerkannt werden. Daraus wurde aber nichts.
Einige von uns meinten dann, Asylbewerberheime anzuzünden würde uns weiterbringen, uns zu mehr Aufmerksamkeit oder mehr Wohlstand verhelfen. Sie hatten die ziemlich dumme Idee, wenn die „Fitschis“ und „Neger“ weg wären, würde alles gut. Das Geld, das jene erhielten, bekämen dann wir. Das Ergebnis aber war ein anderes. Wir wurden – mal abgesehen von toten und traumatisierten Zuwanderern – ein weiteres Mal stigmatisiert. Die Ostdeutschen nahm man nun als hinterwäldlerische Dumpfbacken wahr, als Psychowracks des Kommunismus, die man im Kindergarten zu früh getopft hatte. Es machte sich die These breit, wir würden nun mit denen fremdeln, weil wir in unserem Sozialgehege DDR zu wenig Kontakt mit Ausländern gehabt hätten. Im Westen gab es ja auch brennende Unterkünfte. Aber dafür wurde nicht die Westsozialisation verantwortlich gemacht. Dort galt das schlicht als Delikt, bei uns als „diktaturbedingte Deformation“.
Warum schreibe ich Euch das alles?
Ich kann den Frust verstehen, als „Ossi“ nicht anerkannt worden zu sein, sich in seinen Hoffnungen betrogen zu fühlen und zu merken, daß das Leben zu kurz ist, um noch alle Erwartungen wahr werden zu lassen. Ich kann verstehen, wenn manche spüren, daß sie nicht noch eine grundstürzende Änderung in ihrem Leben wollen, daß sie genug Wandel ertragen haben.
Und wahrscheinlich haben alle recht, die annehmen, daß die Kosten, welche die Integration der Geflüchteten zunächst einmal auf jeden Fall verursacht, sicher nicht von den oberen Zehntausend, sondern von den unteren 90 % getragen werden dürften. Daß der berühmte kleine Mann zur Kasse gebeten oder jedenfalls der Kuchen nicht größer wird, aber die Zahl der Esser zunimmt. Und wenn man eh schon denkt, man käme irgendwie zu kurz, dann wird man eben wütend und will das auch artikulieren dürfen.
Es gibt aber auch ein paar Sachen, die ich nicht verstehe. Zum Beispiel wird der Kuchen seit Jahrzehnten in Wirklichkeit jedes Jahr größer, und Ihr bekommt auch ohne Flüchtlinge nichts davon ab. Ist Euch das noch nie aufgefallen? Als sie die Rente mit 67 einführten, die ja in Wahrheit eine riesige Rentenkürzung ist und Millionen von Armutsrentnern produziert, hat es keine Massenproteste gegeben. Habt Ihr schon mal mitbekommen, daß die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, ganz ohne Flüchtlinge?
Die meisten von uns sind Atheisten, und trotzdem quatschen Pegida und AfD immer von den christlichen Werten des Abendlandes. Was meinen die, und was meint Ihr damit? Etwa den Satz von Jesus: „Was ihr den geringsten meiner Brüder tut, das tut ihr mir?“ Doch wohl eher nicht.
Ich will nämlich nicht glauben, daß Ihr einfach nur Rassisten seid, daß Ihr tatsächlich der Meinung seid, die deutsche Kultur stehe irgendwie über der syrischen oder arabischen oder muslimischen, wie immer Ihr das auch nennt. Ich kann nicht glauben, daß Ihr ernsthaft Angst vor „vergewaltigenden Arabern“ habt.
Glaubt Ihr wirklich, wir Deutschen wären irgendwie wertvollere Menschen, wir hätten uns unseren Wohlstand durch harte Arbeit verdient?
Glaubt Ihr wirklich, mit dem glücklichen Zufall der mitteleuropäischen Niederkunft und der Hautfarbe unserer Mütter verbinde sich ein dauerhaftes Besitzstandsrecht auf Boden und Ressourcenverbrauch, einschließlich Ressourcenkriegen und Putschen in rohstoffreichen Ländern zur Ausschlachtung der Südhalbkugel?
Glaubt Ihr wirklich, Deutschland würde von Barbaren überrannt, die Tausende von Kilometern zu Fuß zurücklegen, weil sie falsch (oder richtig) informiert sind über Hartz IV?
Glaubt Ihr wirklich, die geben alles auf, was sie hatten, um hier als Sozialtouristen in einer fremden Kultur, abgeschnitten von der Heimat, in Bruchbuden ihr Dasein zu fristen?
Würdet Ihr Euch, mal angenommen, Syrien hätte unser Sozialsystem, so mir nichts dir nichts zu Fuß nach Syrien aufmachen, weil man dort eine Mindestsicherung bekommt, die hier vielleicht nicht zu haben ist? Würde man dafür Tausende von Kilometern unter Lebensgefahr zurücklegen? Nein, natürlich nicht. Also kann ich nicht glauben, daß Ihr annehmt, sie kämen vielleicht ja doch ohne Not.
Glaubt Ihr wirklich, Frau Petry, Herrn Gauland oder Björn Höcke, dem Seehofer oder dem de Maizière ginge es um Euer Wohl oder um Deutschland?
Glaubt Ihr wirklich, wenn Ihr die stark macht, daß es dann für Euch und Eure Kinder besser läuft?
Wenn Ihr glaubt, daß es dann im Land gerechter zugeht, nur weil wir uns die Flüchtlinge vom Hals halten, daß die Armen, Alten und Geringverdiener es dann leichter haben, dann benutzt doch bitte einfach Euren Kopf und überfliegt mal rasch die Geschichte Eures eigenen Lebens. Prüft, was die Politik Euch zu unterschiedlichen Zeiten geboten hat!
Oder wißt Ihr das schon alles, glaubt aber, daß die Flüchtlinge die ganze Scheiße noch schlimmer machen, und wollt deshalb, daß sie wegbleiben? Weil Ihr zwar wißt, daß die Welt ungerecht ist, Euch aber nicht traut, gegen die bekannten Ungerechtigkeiten vorzugehen und daher lieber als bessergestellte Beschissene leben wollt, als Euch mal richtig gegen jene zu wenden, welche Euch bescheißen? Ist es also nur Feigheit und ein kaltes Herz, aber gar nicht Vaterlandsliebe, Christentum und Verantwortung für Eure Kinder? Das kann ich nicht glauben.
Falls doch, dann sagt das einfach so und bemäntelt nicht Eure Verbitterung, Euren Opportunismus, Eure Feigheit und Eure Engherzigkeit mit großen Worten. Denn Ihr wißt genausogut wie ich: Die Frage, ob wir das schaffen, ist keine Frage der Zahl und der Herkunft der Geflüchteten, sondern einzig und allein eine Frage des Willens und der Bereitschaft. Natürlich ist das zu schaffen. Wer Exportweltmeister wird, bewältigt auch die Flüchtlingsintegration. Wer 12 Millionen deutsche Flüchtlinge aus dem Osten nach 1945 in ein zerstörtes Land integrieren konnte, der vermag natürlich auch mindestens eine Million Flüchtende in das reichste Land Europas einzugliedern.
Sind Wille und Bereitschaft vorhanden, dann besteht der Rest aus Geld und Organisationstalent. Für beides sind die Deutschen in der Welt ziemlich bekannt. Das hat uns bisher nicht gestört.
Natürlich macht es Arbeit, und es gibt für einige wenige unter uns auch Einschränkungen. Regierungspolitiker müssen jetzt zum Beispiel etwas mehr rödeln als sonst. Auch die Verwaltungen arbeiten am Limit. weil der Staat ihnen nicht die nötigen Ressourcen zur Verfügung stellt. Und zwischenzeitlich trifft es auch die eine oder andere Turnhalle. Aber sonst? Ein bißchen mehr Selbstbewußtsein sollte wohl schon drin sein. Ihr könntet ja mal den arg gescholtenen „Gutmenschen“ über die Schulter gucken. Viele von denen betätigen sich nun schon seit Monaten in Flüchtlingsunterkünften, ehrenamtlich nach der Arbeit, in ihrem Urlaub, als Rentner oder Selbständige.
Das „deutsche Wesen“ und die „deutschen Werte“ halten angeblich ausgerechnet jene hoch, welche seit Monaten nichts anderes zu tun haben als zu jammern und die Herausforderungen nicht anzunehmen, sondern sie abzuwehren: Leute, die aus Angst vorm Muselmann oder wegen ihrer nächsten mickrigen Rentenerhöhung Leuten zujubeln, die aus einer mehr schlecht als recht funktionierenden Demokratie eine gut funktionierende Diktatur machen werden, wenn Ihr sie gewähren laßt. Wer Orbán in Ungarn und Petry in Deutschland hinterherläuft, der macht dieses recht friedliche Scheißbürokraten-Europa so kaputt, daß Ihr Euch nach ihm noch zurücksehnen werdet.
Ich wäre ja dafür, es einfach besser zu machen und das zu beherzigen, was wir im Grunde wissen: Solidarität läßt alle reicher werden, während Abgrenzung und Konkurrenz sowohl Gewinner als auch Verlierer hervorbringt, Neid, Haß und Krieg gebiert. So einfach ist das.
Aber Ihr sollt ja keinen simplen Parolen hinterherrennen. Laßt Euch nicht noch einmal blühende Landschaften versprechen! Von wem auch immer.
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