RotFuchs 222 – Juli 2016

Was bleibt?

Renato Lorenz

Wohl alle der vielleicht 350 bis 400 gedenkenden Menschen, die am 12. Mai Klaus Steiniger die letzte Ehre gaben, wußten genau, wen sie da verabschiedeten und welches politische Erbe es zu bewahren gilt. Hoch gebildet, die Lehren des 2. Weltkriegs nicht vergessend, die DDR-Zeit mitgestaltend, von unserer Niederlage und der heutigen politischen Situation geprägt, wollten sie gemeinsam ein Zeichen setzen – füreinander und an die nach ihnen Kommenden gerichtet.

Klaus Steiniger hat die Rede zu seinem Abschied selbst verfaßt und als Tonaufzeichnung hinterlassen. Von dem, was er sagte, war ihm mit am wichtigsten wohl seine Erkenntnis, daß die DDR der beste Staat war, den es je auf deutschem Boden gegeben hat.

Bei diesem Gedanken sehe ich mich mit der Frage nach meiner eigenen und unser aller Verantwortung für das Scheitern unseres Staates konfrontiert.

Ja, man kann sagen, die DDR wurde annektiert und in gewisser Weise sogar kolonialisiert. Doch wir haben auch zugelassen, daß sie annektiert wurde. War es nicht so, daß die deutlichen Zeichen der inneren Krise fast tatenlos, ziemlich widerstandslos, lediglich registriert oder sogar ignoriert wurden?

Zu sprechen wäre hier über die Gesellschaftswissenschaften der DDR, defizitäre Führungsverantwortung nicht nur auf höchster Staats- und Parteiebene, die Rolle solcher Renegaten wie Schabowski, die vielen Karrieristen in Parteifunktionen und vieles mehr. Ans Tageslicht kamen diese erst, als sie sich „wendeten“. Und wer ahnte schließlich Gorbatschows Konzeptions- und auch Charakterlosigkeit und die seiner Truppe, die am Ende in Kollaboration mit dem Klassenfeind mündete. Ein politisch gebildetes, über den Zustand der Welt und besonders über den deutschen Kapitalismus gut informiertes DDR-Volk hat sich – offensichtlich in der Hoffnung, es würde schon nicht so schlimm werden – mit der Annektion abgefunden. Den ökonomische Kollaps hinnehmend, dafür die D-Mark besitzen wollend, haben ihre Bürger politische Bevormundung, Liquidierung der kulturellen und sozialen Errungenschaften sowie den Raub des Volkseigentums hingenommen. Man wählte mehrheitlich Kohl, man wählte das Kapital.

Doch das nun einsetzende massenhafte Aufeinandertreffen der Menschen der beiden bisher getrennten deutschen Staaten brachte auch etwas ans Tageslicht, was so manchen in Staunen versetzte. Man mußte zur Kenntnis nehmen, daß der „Ossi“ so anders, so viel natürlicher, so viel „angenehmer“ war als der „Wessi“ – ein Phänomen, das ein Indikator dafür ist, daß die DDR den Humanismus im Alltag tatsächlich und sehr wirksam entfaltet hatte.

Der Mensch an sich hatte sich geändert, er mußte also sehr wohl nicht Feind des Menschen sein, sondern konnte in einem solchen Umfeld immer mehr als verantwortlich fühlendes Mitglied der Gemeinschaft solidarisch agieren. Er war nicht Konkurrent und Widersacher des anderen, weil die gesellschaftlichen Bedingungen – für jeden in etwa gleich und gerecht – wirksam waren und niemanden ausschlossen, außer den Klassengegner (und manchmal leider auch Menschen, die berechtigt Kritik übten). Anders gesagt: 40 Jahre DDR haben bewiesen: Der Mensch ist sozialismusfähig! Das allein ist der Grund für die Delegitimierung der DDR und für die Legende vom Unrechtsstaat, die als Staatsdoktrin Nr. 1 wieder und wieder in die Hirne der Menschen gehämmert wird.

„Ihr Thüringer Linken, seid ihr noch bei Trost?!“ – möchte ich am liebsten noch an Steinigers Grab rufen: Die DDR ist 1953 gerettet worden, selbst wenn einiges im ersten Anlauf nicht so gut gelaufen ist. Das wäre zu feiern gewesen!

Ich frage weiter: Wie ist der Mensch auf dem Weg zum Sozialismus „bei der Stange zu halten“, ganz besonders, wenn es nicht so gut läuft? Das ist uns weder in den Leitungsorganen von Staat und Partei noch unter der Bevölkerung in ausreichendem Maße gelungen oder eben nur so lange, wie die Alternative zum Sozialismus sichtbar nachteilhaft ist – wie nach dem 2. Weltkrieg für die Osteuropäer oder für die Kubaner angesichts der Sanktions- und Aggressionspolitik der USA.

Insofern ist die Botschaft Klaus Steinigers nicht hoch genug einzuschätzen. Die DDR ist der beste Staat in der Geschichte des deutschen Volkes. Vor allem deshalb, weil sie für 40 Jahre dem deutschen Kapital das ausbeuterische Eigentum und die politische Macht entzog. Darüber sollte weiter publiziert werden, um den Vergleich zu ermöglichen – unter Berücksichtigung der Entwicklung in Wissenschaft und Technik, die ja auch um die DDR keinen Bogen hätte machen können.

Wir müssen es erneut versuchen mit einem besseren deutschen Staat und einem besseren Europa – und es dabei besser machen. Dazu sind die Probleme der DDR und die Gründe unseres Versagens gründlich zu analysieren und offenzulegen, insbesondere die soziologischen Erscheinungen, die sich in allen osteuropäischen Ländern gezeigt haben. Das mag uns schmerzlich treffen angesichts unser eigenen Fehler und Defizite. Aber ohne ein solches offenes Herangehen an Ursachenforschung werden wir ein Desaster erleben.