Was ich in Leningrad empfand
Die FDJ-Studentenbrigaden stellten an den Universitäten und Hochschulen der DDR eine sehr eindringliche Form des Kennenlernens anderer sozialistischer Länder dar. Auf der Grundlage von Partnerschaftsverträgen mit deren befreundeten Bildungseinrichtungen wurden regelmäßig in den Sommerferien Studentengruppen ausgetauscht, die am Produktionsprozeß teilnahmen und anschließend das jeweilige Land auf einer aus dem erarbeiten Lohn finanzierten Rundreise kennenlernten. Während des dreiwöchigen Arbeitseinsatzes wurden nicht nur wertvolle Freundschaften zu den Kommilitonen der Partnereinrichtungen, die stets durch eine mitarbeitende Gruppe vertreten waren, geknüpft. Man erhielt auch Einblick in die dortige Produktionsorganisation und die Wesensart der Einheimischen.
Zweimal hatte ich während meines Pädagogikstudiums die Möglichkeit, auf einer solchen Austauschbasis mit dem Leningrader Partnerinstitut „Herzen“ in die Sowjetunion zu fahren. Ich arbeitete im Haus- und Straßenbau in Puschkin und Kislowodsk. Schon diese Tätigkeit bahnte den Weg zu dauerhaften und herzlichen Freundschaften, die sich oftmals nicht nur in Briefkontakten, sondern auch in privaten Besuchen fortsetzten.
Während der Exkursionen lernte ich Moskau, Leningrad, den Kaukasus und die estnische Hauptstadt Tallin kennen. Die Pracht der nach dem Krieg wieder aufgebauten historischen Stätten von Puschkin und Petrodworez hat sich mir tief eingeprägt. Natürlich auch Moskau, wobei der Empfang unserer Gruppe in der Lomonossow-Universität den Höhepunkt darstellte. Höchst abenteuerlich war die mehrtägige Exkursion zum Hauptkamm des Kaukasus mit seiner wilden, zum Teil noch unberührten natürlichen Schönheit. Im Elbrus-Massiv mußten uns Einsatzkräfte mit schwerster Technik retten, als uns nachts ein verheerendes Gewitter überrascht hatte und wir im Baksantal buchstäblich eingeschlossen waren.
Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, dann gibt es für mich ein besonders prägendes Erlebnis. Gemeinsam mit der Studentengruppe des Partnerinstituts besuchten wir in Leningrad auch den Gedenkfriedhof Piskarjowskoje. Dieser Ort erinnert an die 900tägige Blockade der Stadt an der Newa durch die deutschen Faschisten, denen es nicht gelang, Leningrad zu erobern. Unter den Klängen feierlicher Musik schritten wir durch das Gedenkfeld zur Hauptskulptur. Ich hatte mich mit einer Komsomolzin vom „Herzen“-Institut angefreundet. So besitze ich ein Foto, auf dem wir beide Hand in Hand die Stufen zu dem eindrucksvollen Werk des Künstlers emporschreiten, das den heldenhaften Kampf der Verteidiger der Stadt und der Sieger über die Blockade symbolisieren soll.
Jedes Mal, wenn ich dieses Foto betrachte, muß ich daran denken, was sich Menschen in der Geschichte Schlimmes angetan haben, obwohl sie doch eigentlich zu ganz anderem berufen sind. Dabei stehen für mich Faschismus und Krieg auf der einen, Freundschaft, Liebe und gegenseitige Bereicherung auf der anderen Seite. Ich empfinde in diesen Augenblicken einen besonderen Stolz darauf, wie weit wir Deutschen aus der DDR und die Bürger der UdSSR nach den furchtbaren Verbrechen der Hitlerfaschisten in historisch so kurzer Zeit auf dem Weg zu Verständigung und Freundschaft vorangekommen waren. Und ich schwöre mir jedesmal, dieser zutiefst verinnerlichten Erkenntnis ein Leben lang treu zu bleiben.
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