RotFuchs 186 – Juli 2013

Was Lenin schon ins Visier nahm

Nico Jühe

Mit dem Sieg der Konterrevolution verschwand auch der dialektische Materialismus aus den Lehrplänen philosophischer Fakultäten osteuropäischer Bildungsstätten. Was übrigblieb, war ein Wirrwarr unterschiedlichster philosophischer Schulen, die das Paradigma vom Kapitalismus als „Ende der Geschichte“ mittrugen. Man verneinte die Historie als Entwicklungsprozeß und bescheinigte der Geistesgeschichte einen einzigen Irrtum.

Das Diktat der Warenproduktion ist inzwischen bis in den Organhandel vorgedrungen. Technischer Fortschritt und wichtige naturwissenschaftliche Erkenntnisse verhalfen einer zwar keineswegs originären, aber wieder erstarkten philosophischen Richtung zu neuer Blüte: dem Naturalismus. Diese Weltanschauung ist im Begriff, die dominierende Schule der bürgerlichen Philosophie zu werden.

Ihre Anhänger sind der Auffassung, ausnahmslos alles in der Welt lasse sich naturwissenschaftlich erklären. Was bei erstem Lesen auch Materialisten ein formales Kopfnicken abverlangen könnte, hat jedoch einen bitteren Beigeschmack: Selbst die menschliche Geschichte sowie Philosophie, Sprachwissenschaften, Kunst und andere Disziplinen sollen Gegenstand rein naturwissenschaftlicher Methode sein. So wird das Denken nicht als ein Akt höherer materieller Organisation gewertet, sondern als Ergebnis chemischer und biologischer Prozesse des Gehirns.

Diese Ideologie, die als Biologismus in Erscheinung trat, kritisierte Lenin bereits 1908 in seinem Werk „Materialismus und Empiriokritizismus“. Damals propagierte der Biologismus ein mechanisches Weltbild, wobei er, von Ernst Mach inspiriert, die frühen Gesetze der Biologie und die Theorien Darwins als menschliche Natur zu verbreiten suchte. In seinem Buch „Das egoistische Gen“ entwickelt Richard Dawkins, ein moderner Vertreter dieser Richtung, u. a. die Theorie einer natürlichen Selektion von Genen, die durch Mutationen in einem immerwährenden Konkurrenzkampf einander gegenüberstünden. Jegliche Verhaltensweise von Menschen sei demnach Ausdruck egoistischen Verhaltens. Sam Harris forderte, daß sich die Naturwissenschaften endlich mit der Moral befassen und eine entsprechende Erklärung „richtiger Verhaltensweisen“ darlegen sollten.

Die „neuen“ Naturalisten begannen Anfang der 90er Jahre eine Diskussion über die eigentlichen Grundlagen wissenschaftlicher Theorie und Methode. Ihre Position schlug sich auch in den Gesellschaftswissenschaften nieder. Diese reaktionäre Weltsicht ist ein brauchbares Mittel zur Rechtfertigung der kapitalistischen Macht- und Eigentumsverhältnisse in der Epoche des Imperialismus. Der Idealismus brachte durch Wilhelm Hegel die Dialektik als wohl höchste Methode des Denkens hervor. Der Naturalismus erklärt demgegenüber die Natur aus sich selbst.

Heute ist der dialektische Materialismus die einzige Weltanschauung, die Quantität und Qualität als dialektisch begreift und somit auch das Dilemma bürgerlicher Philosophie löst. Er ist zugleich die Form, in der beide Strömungen im hegelschen Sinne aufgehoben sind. Uns bleibt, die Naturalisten als eine neue Formation bürgerlicher Ideologie im Zeitalter der Wissenschaftlichkeit zu erkennen und ihr falsches, unzureichendes Modell zu entlarven.

Unser Autor studiert Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal.