Was war die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät?
Bei der Lektüre des Leitartikels „Über Junge und Alte“ im Dezember-„Rot-Fuchs“ ging mir so manches durch den Kopf.
Unlängst war die Enkeltochter bei uns zu Besuch. Sie studiert an der Universität Potsdam – zu DDR-Zeiten eine Pädagogische Hochschule. Sie hatte auch ihr Zeugnis voller guter und sehr guter Noten mitgebracht. Ein fleißiges und bescheidenes Mädchen, auf das wir stolz sein können! Da auch ich einmal studiert habe, unterhielten wir uns über den Alltag der an Hochschulen Lernenden damals und heute. Viele junge Leute, die nicht aus begüterten Elternhäusern stammen, besuchen derzeit ein halbes Jahr lang die Vorlesungen, während sie das andere Halbjahr arbeiten, um finanziell über die Runden zu kommen.
Bisweilen sind Studiengebühren zu entrichten, welche die DDR bereits in der ersten Hälfte der 50er Jahre abgeschafft hatte. Bücher sind teuer, auch Unterkunft, Verpflegung und Fahrtkosten gehen ins Geld. Das sogenannte BAFÖG aber ist ja nur ein zinsloser Kredit, der nach dem Studienabschluß zurückgezahlt werden muß. Nicht alle werden damit ausgestattet.
Als ich mir den Bericht der Enkelin anhörte, dachte ich: Da hast du ja als Arbeiterstudent in der DDR wie im Schlaraffenland gelebt.
Ich lernte von 1950 bis 1953 Betriebsschlosser im VEB Stahl- und Walzwerk Riesa. Und da ich nicht der Schlechteste war, delegierte mich der volkseigene Betrieb an die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät der Technischen Hochschule Dresden. Das war kein Zuckerschlecken. Die Lehrer sagten uns unverblümt, daß nur echte Leistungen zählen. So habe ich mich im mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig der ABF auf den Hosenboden gesetzt, um gute Ergebnisse zu erzielen. Wir hatten neun Stunden Mathematik und je vier Stunden Physik und Chemie pro Woche. Hauptfächer waren außerdem Deutsch, Geschichte und Russisch.
Das Abitur bestand ich mit der Note „gut“ und bekam sofort einen Studienplatz an der Fakultät Technologie des Maschinenbaus der TU Dresden, wie die TH seit 1956 hieß. Von 35 Schülern unserer ABF-Klasse – wir durften uns auch Studenten nennen – bestanden übrigens nur 19 das Abitur!
1962 verließ ich als Diplomingenieur die TU Dresden und ging wieder in meinen Delegierungsbetrieb nach Riesa zurück, wo ich dann über 30 Jahre als Schweißingenieur, Hauptschweißingenieur und Leiter für Qualitätssicherung und Schweißtechnik gearbeitet habe.
In über 40 wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die in der DDR, der BRD, Österreich und China erschienen, habe ich über unsere Arbeit berichtet. Auch drei Fachbücher, die mit Genehmigung der zuständigen DDR-Behörden in der BRD verlegt wurden, waren Ergebnisse unserer Arbeit.
Während meiner Studienzeit erhielt jeder ABF-Student ein monatliches Grundstipendium von 190 Mark der DDR. Im Studentenwohnheim zahlten wir im Monat 10 Mark Miete. Verpflegung und Mensaessen (maximal 1 Mark) waren billig. Außerdem konnte man bei guten oder sehr guten Noten ein Leistungsstipendium erhalten: 40 Mark bei guten, 80 Mark bei sehr guten und ein Karl-Marx-Stipendium bei außergewöhnlichem Abschneiden. Ich bekam 40 Mark. In unserer Fachrichtung gab es einen Studenten aus Jena, der das Karl-Marx-Stipendium bezog und später im VEB Carl Zeiß bei Werkdirektor Prof. Biermann arbeitete.
Lag man in einem Fach deutlich über dem Durchschnitt, konnte man sich als Hilfsassistent zusätzlich 100 Mark verdienen. Ich tat das in Mathematik. Auch mein Delegierungsbetrieb unterstützte mich während des Studiums mit jährlich 100 Mark Büchergeld, Leistungsprämien und einer Weihnachtszuwendung. Meine Eltern hätten mir ebenfalls finanziell geholfen, was ich aber nicht wollte. So packte mir Mutter alle drei Wochen, wenn ich nach Hause kam, da ich nebenbei bei der HSG Wissenschaft TU Dresden Fußball spielte, den halben Koffer mit Eßware voll. Übrigens kostete mich eine Bahnfahrt von Dresden nach Riesa als Student nur 1,10 Mark!
Die BRD beklagt sich darüber, nicht genügend ausgebildete Fachleute zu besitzen. Das ist bei den heutigen Studienbedingungen ja kein Wunder und vielleicht sogar gewollt. Man holt sich eben billige Fachleute aus dem Ausland.
Jedenfalls bin ich stolz darauf, in der DDR gelebt und auch wissenschaftlich und privat etwas geleistet zu haben. Mein größter Kummer ist, daß mein Staat durch innere und äußere Defizite so jämmerlich zu Grunde gegangen ist. Ja, ich wollte – wie vielleicht auch einige der Leute, die damals in Leipzig demonstriert haben – eine noch weit bessere DDR!
Zu meinem Leidwesen sammelte ich die Erfahrung, daß viele junge Leute, die heute einen gut bezahlten Job haben, nur aus Höflichkeit und recht oberflächlich zuhören, wenn wir Alten aus vergangenen Tagen erzählen. Identifizieren wollen sie sich mit der DDR nur selten, weil sie sich unterdessen manches leisten können, das wir damals nicht hatten, und – zumindest theoretisch – in Länder fahren können, wohin wir nicht kamen.
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