Ein geschichtsträchtiger Berliner Bezirk im Wandel der Zeiten
Weinroter Prenzlauer Berg?
Allein im Norden Berlins gibt es über zwanzig Gruppen junger Arbeiter, Erwerbsloser, Lehrlinge, Schüler und Studenten, die sich in lockerem Verbund mehr oder weniger regelmäßig treffen, um politische Debatten zu führen und sich den Nazis auch auf der Straße entgegenzustellen. Vor geraumer Zeit lernte unser damals schon hochbetagter und inzwischen leider verstorbener Genosse Georg Dorn, ein erfahrener Pädagoge der DDR, solche jungen Leute kennen, die sich in der Kultur- und Schankwirtschaft „BAIZ“ zu treffen pflegten. Sie gaben ihrer Gruppe den Namen „Antifaschistische Initiative Weinroter Prenzlauer Berg“. Man faßte Vertrauen zueinander: Schorsch, wie er genannt wurde, nahm seine Gesprächspartner ernst und stand ihnen immer wieder Rede und Antwort. Daraus entwickelte sich mit der Zeit ein Vertrauensverhältnis.
Warum nannten sie ihr Projekt eigentlich „weinrot“?
Der Prenzlauer Berg (PB) ist einer der ältesten und traditionsreichsten Berliner Arbeiterbezirke, auch wenn seit 1990 in großen Scharen dorthin übersiedelnde Zuwanderer aus dem Westen bestrebt sind, daraus ein „Szeneviertel“ zu machen. Natürlich ist das nicht ohne Ergebnisse geblieben, wobei der gewandelte PB seine einstige Farbe keineswegs ganz verloren hat.
Dessen fortschrittliche Traditionen reichen weit zurück. Schon in der Revolution von 1848 schufen sich Arbeiter ihre erste große Kundgebungsstätte dort, wo sich heute der Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark befindet. Von Beginn an war der ganze PB ein durch und durch proletarisches Wohngebiet und zugleich ein Aktionsfeld der revolutionären Arbeiterbewegung.
Die während der Gründerjahre ab 1871 dort massenhaft errichteten Mietskasernen dienten der Unterbringung von einer rasch wachsenden Industrie benötigter Arbeitermassen. So entstanden vier- bis fünfgeschossige Gebäude mit jeweils zwei, drei oder mehr Hinterhöfen, alles dicht an dicht.
Nach 1945 galt der PB als letztes noch vorhandenes Mietskasernenviertel in Europa. Die Einwohnerkonzentration war enorm. 1925 lebten hier 326 000 Menschen auf einer Fläche von nur 10,8 km², 1949 waren es immer noch 251 000. Über 80 % der Wohnungen besaßen weder Bad noch Dusche. Die Toiletten ohne Wasserspülung befanden sich auf Hinterhöfen oder Treppenabsätzen unterhalb der Wohnungen.
Im PB spielten sich erbitterte Klassenschlachten ab, fanden denkwürdige Meetings der Berliner Arbeiter statt. Zu ihnen sprachen August Bebel und der PB-Reichstagsabgeordnete Wilhelm Liebknecht, der dort im Wahlkreis VI bis zu seinem Lebensende unangefochten blieb. Von einer im Bezirk gelegenen Brauerei aus leitete Karl Liebknecht die Abwehrkämpfe der Proletarier Berlins in den schicksalsschweren Dezember- und Januartagen 1918/19. Im Saalbau sprachen Ernst Thälmann und Wilhelm Pieck, entlarvte Walter Ulbricht auf einer Naziversammlung die Demagogie des faschistischen Propagandachefs Joseph Goebbels, was den Terror der paramilitärischen SA-Schläger auslöste. Im PB wurde die Ortsgruppe Berlin des Roten Frontkämpferbundes gegründet. Hier weihten die Roten Jungpioniere ihren ersten Berliner Klub für Arbeiterkinder ein.
1932 gehörten der KPD im Prenzlauer Berg etwa 3500 Genossen an, während die SPD 7000 Mitglieder zählte. Noch im März 1933 – kurz nach der Machtauslieferung an die Faschisten – entschieden sich 44 641 Einwohner für die KPD-Liste, während die SPD dort 50 770 Stimmen einfuhr. Zusammen verfügten beide Arbeiterparteien über eine solide Mehrheit, zumal auf Hitlers NSDAP nur 34,1 % des Votums entfallen waren. Dennoch kam es nicht zur Aktionseinheit. Den braunen Terror der zwölfjährigen Nazidiktatur überlebten etwa 900 Mitglieder beider Parteien. Die Antifaschisten hatten nicht kapituliert. Während die SA-Leute in den Kellern des Wasserturms ein KZ einrichteten, in dem sie ihre Opfer folterten und mordeten, wehte eines Tages auf der Spitze des Turms eine rote Fahne mit Hammer und Sichel. Auf einem Spruchband standen die Worte: „Antifaschistische Aktion – her zu uns!“
35 Gedenktafeln wurden zu DDR-Zeiten im Prenzlauer Berg für Helden des Widerstandes angebracht, 41 Straßen nach ihnen benannt.
„Fichte“-Sportler vom PB unterhielten seit Ende der 20er Jahre Freundschaftsbeziehungen zu Arbeiter-Sportsleuten im sowjetischen Stahlwerk Saporoshje. Ein rotes Seidenbanner, das einige von ihnen dort in Empfang genommen hatten, überstand Haussuchungen, Leibesvisitationen und Gepäckkontrollen der Faschisten. In einer Laubenkolonie illegal lebende Genossen übergaben die Fahne am 22. April 1945 den Befreiern des PB.
In den ersten Maitagen hatten die sowjetischen Truppen den gesamten Stadtbezirk von den Hitlerfaschisten gesäubert. Noch kurz zuvor – am 2. Mai – war der sozialdemokratische Arbeiter Otto Schieritz, der am Balkon seiner Wohnung eine weiße Fahne gehißt hatte, von SS-Angehörigen umgebracht worden. Doch schon tags darauf öffnete ein anderer Sozialdemokrat, der Genosse Franz Kallin – vor 1933 Betriebsratsvorsitzender bei Aschinger – mit einigen seiner Kollegen den Rotarmisten die Tore zur Großbäckerei. Im April 1946 gehörte er zu den Delegierten des historischen Vereinigungsparteitages von SPD und KPD. Später war er Direktor der volkseigenen Brotfabrik „Aktivist“.
Durch die Kriegsfolgen wurde ein Fünftel aller Wohnungen im PB zerstört, der Rest überwiegend schwer beschädigt. Von den Schulgebäuden blieben nur drei unversehrt. Kurz vor Beendigung der Kampfhandlungen hatte die SS noch ganze Wohnviertel niedergebrannt, um sich „Schußfreiheit“ gegen die anrückenden sowjetischen Verbände zu verschaffen. Dieses Gebiet hieß anschließend „tote Stadt“. Erst als Jugend- und Lehrlingsbrigaden des VEB Bau in den 50er Jahren dort neue Wohnhäuser errichteten, wurde daraus allmählich die „grüne Stadt“.
Schon am 27. April 1945 hatten sich Antifaschisten in einem Lokal der heutigen Paul-Robeson-Straße getroffen. Am 3. Mai bildete sich eine parteiübergreifende provisorische Leitung aus Kommunisten, Sozialdemokraten und damals noch Parteilosen. Genossen der KPD und der SPD gründeten Initiativgruppen zur Normalisierung des Lebens in den einzelnen Vierteln. Man begann damit, die Häuser wieder bewohnbar zu machen, eine elementare Versorgung der Bevölkerung aufzunehmen, die Kinderspeisung einzuführen und mit Tausenden „Neulehrern“ ohne entsprechende Ausbildung den Schulunterricht zu wagen. Brennmaterial für den Winter wurde beschafft. Das neue Bezirksamt nahm mit Kommunisten und Sozialdemokraten an der Spitze die Arbeit auf.
Am 5. April 1946 schufen 8800 KPD- und 6880 SPD-Genossen im Prenzlauer Berg durch ihren Zusammenschluß den ersten Berliner Kreisverband der SED. Bewährten Antifaschisten vertraute man nun die Schlüsselpositionen im Staatsapparat und in den schon nicht mehr kapitalistischen Betrieben an. So wurde die aus dem KZ Ravensbrück befreite Kommunistin Aenne Saefkow – Witwe eines hingerichteten Widerstandshelden – Bürgermeisterin im PB. Franz Fischer, ein Mitkämpfer Ernst Thälmanns, trat als 1. Kreissekretär an die Spitze der SED. Andere Überlebende des antifaschistischen Untergrunds organisierten die Produktion, engagierten sich führend beim Aufbau der Großindustrie oder übernahmen Aufgaben bei der Schaffung neuer Sicherheitsorgane.
Die evangelische und die katholische Kirche im Stadtbezirk sowie die jüdische Synagoge mit Rabbiner Martin Riesenburger scharten zu einem Neuanfang bereite Gläubige um sich. Im Block der antifaschistisch-demokratischen Parteien und Massenorganisationen herrschte eine Atmosphäre kameradschaftlicher Zusammenarbeit. Das war die Gewähr für ein Gelingen der revolutionären Umwälzungen in Industrie, Landwirtschaft, Justiz und Bildungswesen, die am 7. Oktober 1949 in der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik gipfelten.
Doch der 1952 begonnene Aufbau des Sozialismus stieß auf heftigen Widerstand innerer und äußerer Feinde. Am 17. Juni 1953 mußten wir auch im PB unsere volkseigenen Betriebe gegen den konterrevolutionären Putschversuch handfest verteidigen. Während ihn die Werktätigen abwehrten, stellten sie zugleich hartnäckig Fragen zu jenen ernsten Fehlern, welche durch uns vor allem auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik begangen worden waren. Aber trotz der Empörung über administrative Norm-erhöhungen – ein Schritt, der ab 9. Juni korrigiert wurde – kam die Produktion in den Betrieben des PB nicht zum Erliegen.
Im August 1961 sicherten wir unsere bis dahin offene Staatsgrenze zu Westberlin. Das brachte besonders für die Bewohner der Häuser im Grenzstreifen unerfreuliche Erschwernisse mit sich. Und: Etliche, die bis dahin bei uns billig gewohnt und gelebt, aber „drüben“ gearbeitet und zu einem Schwindelkurs konvertierbares Westgeld verdient hatten, mußten jetzt im Osten zu Normalbedingungen tätig sein. Verwandtenbesuche von Ost nach West und umgekehrt waren zeitweilig gar nicht, später mit deutlichen Einschränkungen möglich. Dennoch wurde die Tatsache, daß der unfaire Abkauf unserer Warenbestände und die Inanspruchnahme extrem billiger Dienstleistungen durch Einwohner Westberlins ein Ende gefunden hatten, von sehr vielen Menschen honoriert. Es ging nun zügiger voran.
In den vier Jahrzehnten der DDR veränderte unser Stadtbezirk gründlich sein Gesicht. Neue Werke der Elektrotechnik und Elektronik sowie des Anlagenbaus siedelten sich im PB an. Neubaugebiete für mindestens 15 000 Einwohner des Stadtbezirks wurden buchstäblich aus dem Boden gestampft. Zu unserem besonderen Stolz gehörte das großzügige Wohnensemble des Thälmannparks, in dessen Zentrum sich das inzwischen heiß umkämpfte und von Reaktionären ständig bedrohte Denkmal des unvergessenen Arbeiterführers befindet.
Auch im Altbauviertel erfolgte die Modernisierung zahlreicher Wohnungen oder die Rekonstruktion von Gebäuden im historischen Stil. Andererseits gab es auf diesem Gebiet ernste Defizite, die keineswegs kurzfristig behoben werden konnten. Hervorragend ausgestattete Schulen, Kindereinrichtungen, Kaufhallen, Heime für alte Menschen, Volksschwimmhallen sowie ein Planetarium kontrastierten damit.
Trotz aller Erfolge kam die DDR aus äußeren wie auch aus inneren Gründen zu Fall und wurde 1990 von der BRD annektiert, was man als „Wiedervereinigung“ auszugeben versucht. Über weitere Ursachen dieser Niederlage muß mit großer Redlichkeit nachgedacht werden.
1989/90 wurde der beste Staat in der deutschen Geschichte durch die Konterrevolution zu Fall gebracht. Nicht wenige DDR-Bürger gaben den Sozialismus preis, da bei ihnen neben der permanenten Gehirnwäsche durch die Medien des Kapitals auch die realitätsferne schönfärberische Berichterstattung der eigenen Zeitungen und Sender Frustration hervorgerufen hatte. Der eingetretene Vertrauensverlust bewirkte vor allem auch, daß die SED ihre führende Rolle in Staat und Gesellschaft einbüßte. Aussprachen in Betrieben, bei denen wir uns als Parteifunktionäre den kritischen Fragen der Kollegen nicht entzogen, liefen oftmals voller Bitterkeit ab. Zugleich setzte eine vom Klassengegner gezielt hineingetragene Pseudokampagne gegen tatsächlichen oder erfundenen „Machtmißbrauch“ und „Privilegien“ ein. Damals grüßten uns manche nicht mehr. Das ist insofern aufschlußreich, weil uns viele der Betreffenden später wieder ganz anders gegenübertraten. Begegnet man jenen, welche sich in kritischen Tagen bisweilen schroff von uns abwandten, heute erneut, dann ist nicht selten die alte Vertrautheit wieder vorhanden. Nicht wenige von ihnen erzählen freimütig von ihrem Mißgeschick, machen aus ihrer Enttäuschung über die Wirklichkeit des Kapitalismus kein Hehl, den sie zunächst – der allgemeinen Sprachregelung folgend – als „Wende“ betrachtet und begrüßt hatten. Sie hätten die DDR nicht „weghaben wollen“, sagen sie jetzt. Sie hätten die Illusion gehegt, sämtliche Errungenschaften des Sozialismus behalten und zugleich die „Sonnenseiten“ der westdeutschen Konsumgesellschaft genießen zu können.
So ist es sicher kein Zufall, daß 2009 im Wahlkreis 77, zu dem der größte Teil des PB gehört, 28,8 % der Abstimmenden für den Bundestags-Direktkandidaten der Partei Die Linke votierten, während 27,5 % der Zweitstimmen auf diese Liste entfielen.
In den Vierteln unseres Stadtbezirks hat sich in den letzten Jahren vieles stark verändert. Inzwischen gibt es dort keine nennenswerte Industrie mehr, statt dessen aber unzählige Handels- und Dienstleistungseinrichtungen. Auch die soziale und Altersstruktur war diesen Umwälzungen unterworfen. So fragt sich, ob der Prenzlauer Berg unter Berücksichtigung seiner historischen Traditionen eines Tages wieder als rot oder zumindest weinrot bezeichnet werden kann, wofür sich die jungen Leute um Georg Dorn, von denen am Beginn dieses Berichts die Rede war, engagiert haben. Man sollte die Hoffnung nicht aufgeben.
Unser Autor war viele Jahre 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Prenzlauer Berg und danach Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin. Nach der Gründung des „RotFuchs“-Fördervereins im Jahre 2001 wurde der bewährte Marxist – er gehörte der Partei Die Linke an – Vorsitzender der Berliner RF-Regionalgruppe.
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