RotFuchs 190 – November 2013

Die UNESCO erklärte zwei Marx-Werke
zum Weltdokumentenerbe

Weises aus Paris

Prof. Dr. Günter Hoell

Seit 1992 widmet sich die in Paris angesiedelte UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft und Kultur der Einrichtung und ständigen Vervollkommnung einer Liste des Weltdokumentenerbes. Bis heute sind 299 Dokumente, darunter 13 deutsche, in das UNESCO-Register „Memory of the World“ (Gedächtnis der Welt) eingetragen worden. Deutschland ist u. a. mit der Gutenberg-Bibel, Beethovens 9. Sinfonie und dem Nibelungenlied dort vertreten.

Mitte Juni 2013 beriet der UNESCO-Exekutivrat über neue Anträge zur Erweiterung der Liste. Vier deutschen Ersuchen wurde zugestimmt. Es handelt sich um die 3600 Jahre alte Himmelsscheibe von Nebra als wohl früheste Abbildung des Sternenhimmels, das Lorscher Arzneibuch aus dem gleichnamigen Benediktinerkloster als ältestes erhalten gebliebenes deutschsprachiges Dokument zu dieser Thematik, die Goldene Bulle von 1356 als wichtigste Rechtsurkunde des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation sowie das „Manifest der Kommunistischen Partei“ (1848) und „Das Kapital“, Band 1 (1876). Beide Marxschen Werke wurden ausgewählt, „weil sie seit ihrer Entstehung weltweit großen Einfluß auf soziale Bewegungen hatten“.

Wir drei Autoren dieses „RotFuchs“-Beitrags waren zu DDR-Zeiten im Sinne der durch den großen Sohn Triers begründeten Theorie an der Berliner Hochschule für Ökonomie „Bruno Leuschner“ lange Jahre als Wissenschaftler auf den Gebieten Politische Ökonomie, Geschichte der ökonomischen Lehrmeinungen und Philosophie tätig. Zu unseren Anliegen gehörte, die Studenten mit den zwei durch die UNESCO ausgewählten und weiteren Marxschen Schriften vertraut zu machen.

Die Jahre 1863 bis 1867 spielten im Leben von Karl Marx und seiner Familie eine besondere Rolle. Als deutsche Emigranten vegetierten sie in London unter schwierigsten materiellen Bedingungen. Dennoch war Marx sowohl wissenschaftlich als auch politisch außerordentlich produktiv. Es gelang ihm, die beiden letzten „Kapital“-Bände im Entwurf und den ersten Band handschriftlich zu Papier zu bringen. Zugleich bewältigte er eine mit der Gründung und Etablierung der Internationalen Arbeiterassoziation verbundene Riesenarbeit. 1864 war er in den Generalrat der Ersten Internationale und deren ständiges Komitee gewählt worden. Marx verfaßte die Statuten – das als Inauguraladresse bezeichnete Gründungsmanifest – sowie die wichtigsten Beschlüsse, Erklärungen, Aufrufe und Berichte der Organisation. Er stand damit de facto an der Spitze der Ersten Internationale.

Auch Friedrich Engels, von Manchester nach London übergesiedelt, wurde 1870 in den Generalrat gewählt. 1871 übernahm er die Funktion eines Korrespondierenden Sekretärs. Seine außergewöhnlichen Kenntnisse und sein Zugang zu sieben Fremdsprachen bewährten sich dabei besonders und bedeuteten für Marx eine wesentliche Entlastung. Hier muß vor allem auch dessen Frau Jenny erwähnt werden. Sie war Marxens erste Kritikerin, die ihm zugleich in jeder Lebenssituation zur Seite stand.

Ein besonderes Verdienst kommt Friedrich Engels bei der Fertigstellung des Hauptwerkes von Marx zu. Als dieser am 16. August 1867 den letzten Druckbogen des ersten Bandes vom „Kapital“ korrigiert hatte, schrieb er an Engels: „Also dieser Band ist fertig. Bloß Dir verdanke ich es, daß dies möglich war! Ohne Deine Aufopferung für mich könnte ich unmöglich die ungeheuren Arbeiten zu den drei Bänden machen. I embrace you, full of thanks! (Ich umarme Dich dankerfüllt!) Salut, mein lieber, teurer Freund.“

Gemeinhin werden „Das Kapital“ sowie Marxens Schriften „Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie“ und „Ökonomisch-Philosophische Manuskripte“ als profunde Analyse des Kapitalismus verstanden. Im Vorwort zum ersten „Kapital“-Band hob Marx hervor, Ziel seiner Untersuchungen sei es gewesen. das ökonomische Bewegungsgesetz der kapitalistischen Produktionsweise und damit das Geheimnis der kapitalistischen Ausbeutung aufzudecken.

Für Marx ist die Entwicklung der Gesellschaftsformationen ein naturgeschichtlicher Prozeß. Es geht dabei um Verhältnisse, welche die Menschen im Zuge ihrer Reproduktion, im Stoffwechselprozeß mit der Natur sowie in ihrem sozialpolitischen und kulturellen Leben eingehen, die infolge ihres Verhaltens – daher „Verhältnisse“ – zur Existenz und Entwicklung gelangen.

Der Kern der Marxschen Gesellschaftstheorie besteht in der Aufdeckung der dialektischen Beziehungen zwischen ökonomischen und anderen gesellschaftlichen Verhältnissen sowie dem Nachweis der letztlich bestimmenden Rolle der zuerst genannten. Im „Kapital“ wird der grundlegende Zusammenhang von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewußtsein, von Basis und Überbau, von Eigentum, Freiheit und Humanität aufgedeckt. Wir besitzen damit eine in sich geschlossene Theorie der Gesellschaft, die in den Sozialkonzepten vor Marx in keiner Weise zu finden ist.

Marx‘ Erkenntnisse sind hinsichtlich ihres Sinns, ihrer Wahrheit und Nützlichkeit keineswegs nur auf die kapitalistischen Verhältnisse beschränkt. Seine Theorie von der Gesellschaft trägt universellen Charakter und wird ihren Wert behalten, wenn die Menschheit den Kapitalismus längst hinter sich gelassen hat. Die Behauptung eines Norbert Blüm, Marx sei tot, kann man – unverblümt gesagt – nur als riesengroße Dummheit bezeichnen. Seit Marx hat sich die Welt ohne Zweifel ganz wesentlich verändert. Beginnend mit der Oktoberrevolution haben Umwälzungen stattgefunden, welche die Gestaltung sozialistischer Verhältnisse einleiteten. Trotz des Zusammenbruchs der UdSSR und der Niederlage des Sozialismus in Europa gibt es weiterhin Länder mit sozialistischer Orientierung. Und die Erfahrungen, die seit 1917 bei der Gestaltung einer Alternative zum Kapitalismus gesammelt wurden, sind von unschätzbarem Wert.

Der widerspruchsvolle und komplizierte Prozeß der Überwindung des Kapitalismus ist von Erfolgen und Rückschlägen gekennzeichnet, gestaltet sich aber vor allem weitaus langwieriger, als angenommen wurde. Er setzt zugleich einen Prozeß der Erkenntnis voraus: Nur wenn sich die Kräfte des Fortschritts von der Marxschen Theorie und Methode leiten lassen, sie klug anwenden und weiterentwickeln, werden sie Erfolg haben.

Wir verabschieden uns nicht, wie manche andere, von Marx. Die Aufgabe besteht vielmehr darin, ihn unter Berücksichtigung neuer Gegebenheiten und Erfahrungen weiterzudenken. Unsere Zeit belegt, wie sehr Marx recht hat und wie nötig er gebraucht wird.

Die Wirksamkeit von Ideen hängt zweifellos vom allgemeinen gesellschaftlichen Klima ab, was nicht bedeutet, daß man sein eigenes Verhalten dadurch bedingt sehen sollte.

Unter deutschen Verhältnissen hatten es die Ideen von Marx seit den Tagen des Manifests – sieht man von 40 Jahren DDR ab, in denen die Verwirklichung seines Denkens versucht und in Angriff genommen wurde –, nicht gerade leicht. Auch jetzt werden antikommunistische Schreiberlinge aller Art gegen Marx und die UNESCO gerichtete Appelle verfassen. Doch allein die Tatsache, daß „Das Kapital“, Band 1, und das „Manifest“ nunmehr zum Weltdokumentenerbe gehören, ist für Marxisten ein Pfund, mit dem es zu wuchern gilt.

Autoren: Prof. Dr. Günter Hoell / Prof. Dr. Rolf Sieber / Prof. Dr. Günter Söder