Wer beherrscht den Osten?
Der Mann, der von einer „Sternstunde der politischen Bildung“ sprach, heißt Frank Richter, war im Herbst 1989 als Kaplan der Mann des katholischen Bischofs in der „Gruppe der zwanzig“, die nach ihrem Selbstverständnis dem „SED-Regime“ in Dresden den Todesstoß versetzte.
Jetzt ist der Ex-Kaplan Leiter der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen. Sein Lob gilt dem Dokumentarfilm „Wer beherrscht den Osten?“ Er ist im Auftrag des MDR an der Leipziger Universität unter Federführung des Filmemachers Olaf Jacobs entstanden und wirbelte viel Staub auf. Es gab eine Vorpremiere am 30. Mai im Dresdner Filmtheater „Schauburg“, eine Woche vorher schon in Plauen, ehe der MDR am 31. Mai und 6. Juni die beiden Teile zu später Stunde sendete. In Dresden nahm an der Vorpremiere als prominentester Gast Georg Milbradt teil, Kurt Biedenkopfs Nachfolger als Sachsens Ministerpräsident, in Plauen Dr. Herbert Wagner, den die „Wende“ auf den Sessel des Dresdner Oberbürgermeisters schob.
Die zentrale These der Dokumentation lautet: „Eine Annäherung bei den gesellschaftlichen Eliten fand nicht statt.“ Wem ist das eine neue Erkenntnis? War das nicht schon seit mehr als zwei Jahrzehnten jedem bekannt, der keine rosarote Brille trug? Sind denn jetzt sensationelle neue Tatsachen ans Licht gebracht worden? Immerhin, nun wissen wir, daß es 2016 in den ostdeutschen Bundesländern nur zwei Rektoren gibt, die eine DDR-Vergangenheit aufweisen. Von 46 sächsischen Staatssekretären waren 42 seit 2004 „importiert“. Zweifellos tragen solche Tatsachen dazu bei, daß viele Bürger der früheren DDR das Gefühl einer westdeutschen „Fremdherrschaft“ haben. Es gehe die „Angst vor Überfremdung“ um, wie eine Leipziger Studie feststellte. Nur zwei Prozent der Ostdeutschen säßen in Führungspositionen, wird zur Untermauerung dieser These angeführt. MDR-Chefredakteur Stefan Raue nannte das sogar den „eigentlichen Skandal“. Erstaunlich! Die Fakten sind seit über zwanzig Jahren dokumentiert. Warum sind sie erst heute „Skandal“? Warum werden die entscheidenden Fragen ausgeklammert? Wer hat diese Situation herbeigeführt? Wer ist für den „Skandal“ verantwortlich? Warum und von wem wurde der politische Kurs gesteuert, der in die heutige desolate Lage führte?
In der Schauburg äußerte sich dazu Ex-Ministerpräsident Georg Milbradt. Er schiebt das Dilemma auf das Konto der letzten Volkskammer der DDR, die Kohl unter dem „Dach der Kirchen“ hat zusammenzimmern lassen. Der damalige Bundesminister des Innern Wolfgang Schäuble bestätigte später, daß die DDR-Partner nichts zu sagen hatten. Hinter de Maizière und seinen Ministern standen die wirklichen Befehlshaber aus Bonn. Wer weiß noch, welchen Schatten Pfarrer Eppelmann hatte? Holte sich nicht Markus Meckel seine Direktiven in Genschers Privathaus ab?
Es überrascht nicht, daß die Hauptschuld an den Folgen der „freien Wahlen“ vom März 1990 der letzten Volkskammer der DDR zugesprochen wurde. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan …
Milbradt nennt noch einen anderen Umstand. Es hätten nicht genügend Fachleute zur Verfügung gestanden. In der Tat, eine Ausbildung für kapitalistisches Management hat es in der DDR nicht gegeben. Aber mußte Biedenkopfs Wissenschaftsminister Hans Joachim Meyer deshalb Hunderte hochqualifizierte Akademiker – Physiker, Ärzte, Lehrer, Künstler – rechtswidrig „abwickeln“? Waren die Polizisten, die „Pfarrer Gnadenlos“ feuerte, fachlich ungeeignet? Mußte der moderne Komplex der Pädagogischen Hochschule abgerissen werden, um die Lehrerbildung zu verbessern? Oder ist der Lehrermangel von heute damals bewußt geplant worden? Und nicht zuletzt: Genscher, der „Held von Prag“, setzte „demokratisch“ durch, daß sich kein einziger Mitarbeiter des DDR-Außenministeriums in der „gesamtdeutschen“ Diplomatie wiederfand.
Die Folgen sind hinlänglich bekannt. Antje Hermenau möchte, daß der „Hauch der Kränkung, der durch die Republik geht, mal langsam losgelassen“ werden sollte. Die Frau hat Humor! Nur wäre zu fragen, wer wen „gekränkt“ hat. Gibt es da nicht Leute, die uns „Schwerter zu Pflugscharen“ versprochen haben und jetzt jedem Einsatz der Bundeswehr ohne Scham und Gewissen zustimmen? Wenn sich Heuchler jetzt zu Wort melden, um die Lage zu beschönigen und ihre Verantwortung zu leugnen, merkt mancher Leser auf. Allzu straff gespannt, zerbricht der Bogen, meinte Schiller. Und in der Bibel heißt es: Mit dem Maß, mit dem ihr messet, wird man euch wieder messen. In der SZ wurde Richard Schröder mit den Worten zitiert: „Ich finde die ostdeutsche Wehleidigkeit zum Kotzen.“ Gibt es denn eine Wehleidigkeit, die von der Himmelsrichtung geprägt ist? Der Professor für Theologie und Philosophie meint natürlich die Wehleidigkeit noch lebender DDR-Bürger. Der Artikel strotzt von unbewiesenen Behauptungen und Unterstellungen, daß unsereins staunt, was Theologie und Philosophie heutzutage hervorbringen können. Ich mache nur auf eine Stelle aufmerksam. Schröder vergleicht die Veränderungen in den Eigentumsverhältnissen in der DDR mit anderen früheren Bruderländern. In Osteuropa haben sich Oligarchen des Volkseigentums bemächtigt, was sie zu Kriminellen macht. In der DDR wurden „Ostunternehmen“ an Westdeutsche verramscht, was ein Segen für die (alle?) Deutschen ist. Die Käufer sind natürlich Ehrenmänner, nicht die Enkel jener Kriegsverbrecher, die in Nürnberg vor dem internationalen Tribunal standen. Und was die SPD in ihrem Berliner Programm vom 21. Dezember 1989 über den Kapitalismus sagte, muß ein sozialdemokratischer Professor nicht wissen. Ich vermute, daß Richard Schröder zu den zwei Prozent Ostdeutscher gehört, die jetzt zur Elite zählen.
Ich wage zu behaupten: Wenn Politiker vom Typ Schröder, Eppelmann, Gauck, Jahn und Co. die Hälfte der Elite stellen würden, wäre die Lage noch beschissener. Ich kenne manchen westdeutschen Staatsanwalt und Richter, der heute bedauert, was die Siegerjustiz angerichtet hat. Einen Dresdner „friedlichen Revolutionär“, der sein Wirken 1989/90 kritisch reflektiert, kenne ich nicht. Aber das kann an mir liegen.
Auch in Plauen tauchte eine Behauptung auf, die der Schröders ähnelt. Der Historiker Justus Ulbricht fand, daß Einheimische nicht automatisch die bessere und Außenstehende die schlechtere Politik gemacht hätten. Nur, wer behauptet solchen Unsinn? In Plauen war Dr. Herbert Wagner dabei, der noch einmal seine „Wende“-Politik in Dresden erklärte: „Schmeißt die roten Socken raus, und bringt Dresden auf Westniveau!“ Die „roten Socken“ waren seine Mitbürger. Der fromme Katholik setzt bis heute auf rabiaten Antikommunismus, nicht auf christliche Feindesliebe oder Respekt für die Menschenrechte. Eine „rote Socke“ war ich. Am 23. Mai 1990 hatte ich die Aufgabe, die Stadtverordnetenversammlung zu konstituieren und die Wahl zu leiten, aus der Dr. Wagner als Sieger hervorging. (Erst 2016 habe ich erfahren, was hinter den Kulissen vor sich gegangen war.)
Da ich vier Jahre mit Wagner, noch länger mit einigen Vertretern der Siegerjustiz, zu tun hatte, gebe ich zu, daß mir die „einheimischen“ Wendehälse unsympathischer sind. Weder in der Schauburg noch in Plauen ist klar benannt worden, von welchen Motiven die Handelnden getrieben worden sind. Die Westimporte strömten in die Ministerien, Gerichte und Kanzleien und machten im Osten eine Karriere, die sie im Westen nicht gehabt hätten. Meyer schoß Wessis die Professorenstellen frei. Die Symbiose von Wendehälsen und Westimporten „unter dem Dach der Kirchen“ brachte jene Elite hervor, die ihre Ellenbogen gut genutzt hat. Mit offizieller Genehmigung dürfen „wir“ uns jetzt über sie ärgern. Welch ein Fortschritt!
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