Der Schwanz wedelt nicht mit dem Hund
Wer im Merkel-Kabinett bestimmt
Auf 185 Seiten Koalitionsvertrag ist festgeschrieben, wie die Beteiligten aus Unionsparteien und SPD „Deutschlands Zukunft gestalten“ wollen – einer Koalition, die ermöglichen solle, daß es „uns“ morgen noch besser gehe als heute. Das jedenfalls gaukelte die CDU-Vorsitzende Merkel dem Wählervolk vor. Ein Vertrag „für die kleinen Leute“, meinte SPD-Vorsitzender Gabriel. Ja, er verkündete gar: „Die SPD steht für einen Politikwechsel.“ Man sei wieder an der Macht. Diese Auslegung konnte Unionsfraktionschef Kauder so nicht stehen lassen. Weshalb er der SPD-Führung klar machte: „In dieser Regierung wedelt der Schwanz nicht mit dem Hund.“ Schließlich liege die Richtlinienkompetenz bei der Kanzlerin.
Nun ist das allerdings mit dieser Lesart der „Machtfrage“ so eine Sache. Marx und Engels haben nämlich vor mehr als anderthalb Jahrhunderten den Charakter des kapitalistischen Staates bloßgelegt: „Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.“ An dieser Realität hat sich seitdem nichts geändert. Wie bisher nehmen die Spitzenverbände der Konzerne und Banken ihre Richtlinienkompetenz wahr. Nach der Wahl gaben sie den Mitgliedern ihres Verwaltungsausschusses – der Bundesregierung – Eckpunkte des Koalitionsvertrages vor. Zur Installierung der GroKo hatten bereits am Wahlabend der Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände, Hundt, und andere Bosse grünes Licht gegeben. Für die „großen Aufgaben der Zukunft“ brauche das Land eine große Koalition.
Hundt erteilte dann während der Koalitionsverhandlungen einem gesetzlich verankerten flächendeckenden Stundenlohn von 8,50 Euro eine Absage.
„CDU/CSU und SPD stehen für die gemeinsame Euro-Stabilisierungspolitik der letzten Jahre, und es liegt aus meiner Sicht nahe, diese vom Wähler bestätigte Politik gemeinsam fortzusetzen“, forderte er.
Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Grillo, verlangte: „Es muß Schluß sein mit dem ‚Wünsch-dir-was-Konzert‘ und immer neuen Ausgabenplänen.“ Und er verkündete: „Die zentrale Frage lautet, wie wir in Europa und in Deutschland unsere Wettbewerbsfähigkeit sichern können. Löhne müssen wettbewerbsfähig sein und bleiben, Arbeitsmärkte flexibel, Energie bezahlbar, Sozialabgaben leistbar …“ Das sei mit Steuererhöhungen für die Unternehmer unvereinbar. Die Steuern müßten vielmehr gesenkt werden.
Auch die wirtschaftsnahen Forschungsinstitute RWI, IWH, DIW und das Ifo-Institut warnten „dringlich“ vor einem flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 Euro und vor Steuererhöhungen.
In diesem Bunde durften die sogenannten Wirtschaftsweisen nicht fehlen. Demonstrativ in ihrer Position von Hundt bestärkt, unterbreiteten sie den künftigen Koalitionspartnern ein „Horrorszenario“, genannt „Gutachten“. Darin empfahlen sie: „Weiterentwicklung der Reformen der Agenda 2010, Deregulierung des Arbeitsmarktes, Lockerung des Kündigungsschutzes, weitere Anhebung des Renteneintrittsalters, keine Wiedereinführung der Vermögenssteuer, Senkung der Erbschaftssteuer, flächendeckende Erhebung von Studiengebühren.
Die Koalitionspartner fühlten sich von den Richtlinien der Unternehmerverbände und dem „Gutachten“ der „Wirtschaftsweisen“ tief beeindruckt. Frau Merkel erklärte, das „Gutachten“ komme „zur rechten Zeit“. „Wir werden die Hinweise ernst nehmen.“ Die damalige SPD-Geschäftsführerin Nahles tat kund: „Das Geld ist knapp. Es ist klar, daß nicht alles realisiert werden kann.“
Und so sieht denn auch der Koalitionsvertrag aus.
Was den Mindestlohn angeht, so soll ab 1. Januar 2015 ein flächendeckender Mindestlohn von 8,50 Euro gelten. Aber: Bis 2017 bleiben die Tarifentgelte unter 8,50 Euro. Von 2011 bis 2013 waren 41 Tarifverträge abgeschlossen worden, die Stundenlöhne unter 8,50 Euro vorsehen. Es existieren rund 500 Lohngruppen, die unter 8,50 Euro liegen. Berücksichtigt man die Inflationsrate bis 2017, so bleiben von den 8,50 Euro bestenfalls 7,80 Euro übrig. Und, was oft übersehen wird, es handelt sich um einen Bruttolohn, dessen Empfänger mit ihrem Monatsverdienst unter der offiziellen Armutsgrenze von 980 Euro liegen. Kommentar von Kauder: „Der Union ist es zu verdanken, daß die deutsche Wirtschaft bis 2017 Zeit hat, sich auf den Mindestlohn einzurichten.“ Im übrigen bleiben befristete Beschäftigung und Teilzeitbeschäftigung unter 21 Stunden sowie Minijobs, Zeit- und Leiharbeit der Wettbewerbsfähigkeit des Kapitals erhalten. Nicht beseitigt wird der versprochene Abbau der sogenannten kalten Progression, wonach Beschäftigte bei Lohnerhöhungen infolge steigender Steuerlast netto weniger haben als zuvor.
Die Bürgerversicherung wurde von der SPD aufgegeben. Die paritätische Krankenversicherung – mit gleichen Teilen von Unternehmen und Mitarbeitern – wurde 2005 von der Schröder-Regierung liquidiert. Seitdem bleibt der Beitrag für Unternehmen bei 7,3 Prozent eingefroren. Arbeiter und Angestellte müssen dagegen während der Legislaturperiode mit Beitragserhöhungen rechnen, weil die Mütterrente und die Rente mit 63 für Beschäftigte mit 45 Beitragsjahren aus den Sozialkassen und nicht aus Steuermitteln finanziert werden. Beitragserhöhungen sind unausbleiblich. Die Beiträge für die Pflegeversicherung werden spätestens zum 1. Januar 2016 erhöht. Die vielgepriesene Rente mit 63 bei 45 Beitragsjahren wird nur für einen relativ kleinen Kreis von Anwärtern – rund 350 000 – wirksam.
Um die SPD-Forderung nach einer Bürgerversicherung war es schon vor der Wahl still geworden. Und längst war nicht mehr von Steuererhöhungen für Reiche, für die Konzerne oder der Wiedereinführung einer Vermögenssteuer die Rede gewesen. Die Reformen der Agenda 2010 sollen vielmehr, wie die „Wirtschaftsweisen“ darlegten, „weiterentwickelt“ werden. Damals, bei Schröder, waren den Konzernen Steuervergünstigungen in Höhe von 60 Milliarden per Gesetz zugeschanzt worden.
Für die Gehälter von Managern wurde – der Wahlkampfpropaganda zuwider – keine Grenze gesetzt. Ob in der Hinsicht überhaupt etwas geschieht, ist den Hauptversammlungen überlassen, insofern der Aufsichtsrat entsprechend entscheidet.
Die Energiewende wurde gedrosselt. Hundt hatte verlangt: „Die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen darf nicht durch den weiteren unkontrollierten Ausbau erneuerbarer Energien und die damit verbundene Kostenexplosion gefährdet werden.“ Und Grillo forderte, es gehöre „eine bezahlbare und sichere Energieversorgung auf Platz eins der Prioritätenliste“. Den Profitinteressen der vier großen Energiekonzerne mit ihren Atom- und Kohlekraftwerken wurde entsprochen. Im Koalitionsvertrag wurde ein „Ausbaukorridor“ geschaffen. Er soll lästige Konkurrenz, nämlich das Wachstum der erneuerbaren Energie, drosseln. Betroffen sind die Solarindustrie und die preiswerte Windkraft-Land-Industrie sowie die privaten Haushalte, während die Konzerne weiterhin Preisabschläge erhalten.
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