RotFuchs 223 – August 2016

Die EU als Mißgeburt des Imperialismus

Wer profitiert vom Brexit?

Arnold Schölzel

Die EU ist ein staatsmonopolistischer Funktionsmechanismus mit einem imperialistischen Programm. Wahlen auf nationaler oder Unionsebene sind in der Regel nicht von besonderer Bedeutung für sie. Die Entscheidung der britischen Wähler am 23. Juni für den Austritt aus der EU bildet eine Ausnahme. Die Erwartungen der deutschen Regierung schwanken zwischen Warnungen vor einer Auflösung der EU wie bei Wolfgang Schäuble, der einen „Dominoeffekt“ befürchtet, und der Hoffnung, alles könne nach einer längeren Phase des Nachdenkens in London neu gestartet werden, wie es Angela Merkel und Kanzleramtschef Peter Altmaier offenbar bevorzugen.

Schäubles Warnungen sind berechtigt, aber die Bundesregierung will offensichtlich alles tun, um sie nicht Realität werden zu lassen. Bei der britischen Finanzwelt und der Industrie dürfte sie für ihr Anliegen offene Türen finden, die grundlegende Krise, in der sich die EU befindet, wird sich allerdings nicht beseitigen lassen. Ihre Ursachen liegen in der Fehlkonstruktion des Staatenverbundes und in internationalen Machtverschiebungen.

Die EU war seit Gründung ihrer Vorgängerorganisationen ein antisozialistisches Instrument des kalten Krieges. Seit Auflösung der Sowjetunion spielt sie zusammen mit den USA eine zunehmend aggressive Rolle in der Welt. Der deutsche Imperialismus hat in ihr die Rolle einer Ordnungs- und Führungsmacht übernommen. Wirtschaftlich fungieren die osteuropäischen Länder als sein „Hinterhof“, die südlichen Mitgliedstaaten unterliegen seinem Diktat. Frankreich und Großbritannien versuchten stets, die (west)deutsche Vormachtstellung zurückzudrängen. Insofern dienten EWG, EG und EU immer auch zur Regulierung innerimperialistischer Widersprüche, waren und sind sie ein permanenter Krisenmechanismus. Ein Ausscheiden der Atommacht Großbritanniens aus der EU bedeutet einen weiteren Machtzuwachs für die BRD.

Deutschland hat die Krise von 2008 und den Folgejahren genutzt, um seine ökonomische und politische Vormachtstellung gegenüber Frankreich und Großbritannien auszubauen. Insofern ist jedes Votum gegen die EU auch ein Votum gegen Berlin.

Vor allem aber: In den internationalen Kräfteverhältnissen vollzieht sich ein Wandel, der mit dem Begriff Multipolarität richtig beschrieben wird. Die Schwerpunkte des globalen Kapitalismus verlagern sich nach Asien. Es bilden sich global neue Blöcke heraus. Daraus ergibt sich ein neuer Kampf um Einflußsphären und Rohstoffe, der – wie Lenin formulierte – im Kapitalismus unvermeidlich nach Macht und Kapital entschieden wird. Er trägt die Kriegsgefahr in sich. Sollte die EU zerfallen, dann liegen die Gründe dafür in diesem Kampf und nicht, wie oft behauptet, in nationalistischen Ressentiments.

Die bestimmten allerdings die Kampagne für das Referendum in Großbritannien. Die britischen Konservativen, die das Referendum einberiefen, schürten jahrzehntelang Nationalismus und Rassismus. In der Referendumskampagne übertrafen sie an Hetze radikalere Kräfte wie die United Kingdom Party (UKIP) Nigel Farages, faschistische Gruppierungen und vor allem die bürgerlichen Medien. Die Atmosphäre war so aufgeheizt, daß es zum Mord an einer Abgeordneten und fremdenfeindlichen Übergriffen gegen viele der 3,3 Millionen EU-Bürger kam, die im Vereinigten Königreich leben, darunter fast eine Million Polen. Die richtigen Argumente von Sozialisten und Kommunisten für einen „linken“ Ausstieg aus der EU wurden, wie es die kommunistische Tageszeitung „Morning Star“ formulierte, von den großen Medien „ertränkt“, sie drangen kaum in die Öffentlichkeit. Insofern lehrt das britische Referendum, daß Volksabstimmungen, die in einer Atmosphäre rechter, nationalistischer und fremdenfeindlicher Stimmungen einberufen werden (der Chauvinist Viktor Orbán inszeniert das nach britischem Vorbild in Ungarn mit der Abstimmung über Zuwanderung), kein Feld sind, auf dem linke Kräfte gewinnen können. Die britischen Kommunisten bewerten dennoch zu Recht das Ergebnis als „gewaltigen und teilweise desorientierenden Schlag gegen die herrschende kapitalistische Klasse in Großbritannien, gegen ihre angeheuerten Politiker und gegen ihre imperialistischen Verbündeten in der EU, den USA, im Internationalen Währungsfonds und in der NATO“. Aufgabe der Sozialisten und Kommunisten sei es, das Resultat im Interesse der Bevölkerung zu nutzen.

Daran denken die in London Regierenden nicht eine Sekunde: Der zuständige britische Minister erklärte dem Gewerkschaftsdachverband TUC, er sei bei Gesprächen über die Vorbereitung der Verhandlungen mit der EU „unerwünscht“. Diese fänden allein mit dem britischen Industrieverband statt. Das besagt: Die eventuellen Kosten eines EU-Austritts sollen auf die britische Arbeiterklasse abgewälzt werden.

Darauf deutet die Aussortierung unsicherer Kandidaten für den Parteivorsitz und für den Posten des Premiers bei den regierenden Konservativen hin, es werden Scharfmacher für Repression und Armutspolitik nach innen benötigt. Gleiches gilt für die Attacken auf Labourchef Jeremy Corbyn. Unberührt von der politischen Realsatire, die sich in London auch abspielte, bleibt das Finanz- und Industriekapital. Es hatte sich, wie sich nach dem 23. Juni zeigte, nicht zuletzt mit Hilfe der britischen Notenbank gegen eine Phase der Unsicherheit abgesichert. Konzepte für den Sieg der Ausstiegsbefürworter lagen vor.

In der EU schlummern ganz andere Bomben. So berichtete die „Neue Zürcher Zeitung“ am 5. Juli unter der Überschrift „Nicht nur Brexit macht Sorge“ von „globalen Gefahrenherden“. Die seien, so zitierte sie den Vertreter einer japanischen Bank, „weitaus wichtiger“ als jener. Der Vertreter einer japanischen Bank sagte der Zeitung, „der Preis der Globalisierung“ seien „stagnierende oder fallende reale Lebensstandards in der entwickelten Welt, verdeckt durch eine immer höhere Verschuldung“. Die hohen Ausgaben zur Rettung des Finanzsystems hätten wenig erreicht, sinnvoller wäre es seiner Ansicht nach gewesen, „die Mitglieder des Finanzsektors stärker zur Kasse zu bitten, statt die Bevölkerung mit Austerität und finanzieller Repression zu belasten“. Ohne eine Änderung der Politik, sagte ein Experte eines anderen asiatischen Geldinstituts der Zeitung, fürchte er „in Europa eine Desintegrationsdynamik“ und verwies auf Italien, das wahrscheinlich „der nächste Brennpunkt sein werde“.

Der Artikel war kaum erschienen, da kündigte die Regierung in Rom an, sie wolle trotz Verbot durch die EU erneut Steuergelder zur Rettung von Banken mobilisieren. Die haben laut Medienberichten faule Kredite in Höhe von 360 Milliarden Euro angehäuft, das wären rund viermal soviel wie auf dem Höhepunkt der Finanzkrise von 2008.

Das nächste wichtige Referendum in einem EU-Land, abgesehen von dem in Ungarn, findet im Herbst in Italien über die von Regierungschef Matteo Renzi vorangetriebene Verfassungsreform statt. Sollte Renzi nach einer Niederlage seinen Hut nehmen, könnte das die Desintegrationstendenz ganz anders beschleunigen als die britische Abstimmung vom Juni.

Vor diesem Hintergrund wirkt der am 2. Juli veröffentlichte Vorstandsbeschluß der Partei Die Linke „Sechs Punkte für den Exit aus der Krise: Weg von der Austerität und Europa neu starten – sozial und demokratisch!“ wie von einem anderen Stern. Über die ökonomischen Grundlagen der EU oder ihre Kriege (gegenwärtig 17 militärische und Polizei-Missionen) findet sich in dem Papier kein Wort.

Eine realistische Betrachtungsweise bringt die Formulierung „Mißgeburt des Imperialismus“ zum Ausdruck. Der stellvertretende DKP-Vorsitzende Hans-Peter Brenner benutzte sie auf dem 21. Parteitag und erklärte: „Wir müssen Schluß machen mit den Illusionen; man kann nicht an eine Reformierbarkeit der EU glauben.“