RotFuchs 218 – März 2016

Weshalb das Kind in den Brunnen
gefallen ist

Peter Truppel

Klaus Steinigers Leitartikel „Kein Anschluß unter dieser Nummer“ im Oktober-RF hat mich sehr beeindruckt. Wohl auch deswegen, weil ich mich schon seit längerer Zeit mit der Frage beschäftige, woran es wohl gelegen hat, daß unser sozialistischer Staat, den wir – motiviert durch unsere kommunistische Überzeugung – unter großen Mühen in historisch kurzer Frist von 40 Jahren aufgebaut haben, so sang- und klanglos untergegangen ist.

In dem erwähnten Beitrag versucht dessen Autor, darauf eine Antwort zu finden. Er nennt drei Gründe: den politisch-ökonomischen Druck des Westens, den sich abzeichnenden Verfall unseres Hauptverbündeten UdSSR und die faktische Führerlosigkeit von Staat und Partei, als die Konterrevolution bei uns zum entscheidenden Schlag ausholte.

An dieser Aufzählung ist sicher nichts auszusetzen. Aber beantwortet sie auch die vielen Fragen, die sich stellen, wenn man sich mit der Suche nach den Ursachen näher und intensiver beschäftigt?

Uns wurde im Laufe der Jahre ein Wirtschaftskrieg aufgezwungen, den wir – von den wichtigsten Verbündeten mit der Zeit immer mehr allein gelassen – nicht gewinnen konnten. Leitende Wirtschaftsfunktionäre, Generaldirektoren unserer wichtigsten und fortgeschrittensten Kombinate hatten die Parteispitze immer wieder auf Defizite in der Wirtschaftsführung des ZK der SED aufmerksam gemacht. Wir Kontrolleure der Arbeiter-und-Bauern-Inspektion der DDR – ich war 1988/89 Leiter der Kombinatsinspektion im VEB Textilkombinat Cottbus – haben diese Defizite in unseren Berichten an die Partei immer wieder anhand konkreter Beispiele und Sachverhalte beim Namen genannt.

Warum weigerte man sich, unangenehme Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen und darauf unter Einbeziehung der Bürger entsprechend zu reagieren? Kann es sein, daß die sinnentstellend interpretierten Worte des schönen Fürnberg-Liedes „Die Partei, die Partei hat immer recht“, führende Genossen zu der Annahme verleitet haben, sie träfen stets und überall nur richtige Entscheidungen, was sie sich durch gut inszenierte Parteitage und Aktivtagungen mit entsprechend geschönten Wortmeldungen bestätigen ließen?

Auch den Krieg gegen die Faschisten hat nicht ein einzelner gewonnen – ihn haben die sowjetischen Soldaten, denen bewußt war, daß sie für ihr Land kämpften und von einer herausragenden Generalität befehligt wurden, kollektiv gewonnen.

Steiniger schreibt in seinem Leitartikel, der Generalsekretär unserer Partei sei sehr krank gewesen, und der überwiegende Teil des Politbüros habe sich im Urlaub oder sonstwo auf Reisen befunden. Kein führender Genosse besaß den Mut oder war dazu in der Lage, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen und mit zur Abwehr bereiten Kräften den Angriff auf unseren Staat zurückzuweisen, bevor die Konterrevolution zuschlug. Darauf, wichtige staatstragende Entscheidungen ohne Erich Honecker zu treffen, war niemand eingerichtet. Als Egon Krenz und Hans Modrow endlich die Führung übernahmen, hatten die Glocken den Untergang der DDR bereits eingeläutet.

In der Machtkonzentration bei einzelnen Personen, der fehlenden Kollektivität der Führung und der immer tiefer werdenden Kluft zwischen Ansprüchen unserer Bürger, die sie mit dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung verbanden, und der Realität sind wichtige Ursachen des Untergangs der DDR zu suchen.

Wir haben allen Grund, auf unsere Erfolge beim sozialistischen Aufbau der DDR stolz zu sein. Immerhin war es uns gelungen, auf einem vom Faschismus hinterlassenen riesigen Trümmerberg einen Staat zu errichten, der volkswirtschaftlich zu den zehn stärksten der Welt aufstieg. Und das trotz hinterhältiger Embargobestimmungen des Westens! Wir wurden nicht mit amerikanischen Dollars aufgepäppelt, was uns die BRD-Kapitalisten als ihr „Wirtschaftswunder“ verkaufen wollen. Statt dessen blieb es uns überlassen, die enormen Reparationszahlungen an die UdSSR allein zu tragen.

Doch auch unsere Defizite wiegen schwer. Es ist uns Kommunisten und unseren Weggefährten nicht gelungen, in 40 Jahren DDR der arbeitenden Bevölkerung die unbestreitbaren Vorzüge einer sozialistischen Gesellschaftsordnung so deutlich zu machen, daß sie bereit gewesen wäre, für den Erhalt ihres Staates zu kämpfen. So wurden unser revolutionäres Bildungssystem, die unentgeltliche medizinische Betreuung, das umfangreiche und immer wirksamer werdende Wohnungsbauprogramm und die garantierte Vollbeschäftigung am Ende als Selbstverständlichkeiten aufgefaßt. Andererseits vermochten die Westmedien bei der Mehrheit der DDR-Bürger materielle Bedürfnisse zu wecken, die unser Staat in seiner Aufbauphase noch nicht befriedigen konnte. Wir haben das Konsumdenken der meisten Menschen gehörig unterschätzt. So ist es dazu gekommen, daß DDR-Bürger den Totengräbern unserer Errungenschaften mit Kohl an der Spitze, der sich dann auch noch massiv in den DDR-Wahlkampf vor dem März 1990 einmischte, in Scharen zujubelten.

Und wo war unsere SED, die wir immer als eine revolutionäre Kampfpartei bezeichnet haben, als die Annexionspolitiker aus der Alt-BRD mit ihrer heimtückischen Treuhandgesellschaft gegen den Willen vieler Arbeiter, die sich schließlich alleingelassen fühlten und resignierten, unser Volkseigentum stahlen und unsere Wirtschaft zerstörten?

Der Versuch, auf all diese Fragen eine seriöse Antwort zu geben, ist einem einzelnen nicht möglich. Was wir brauchen – und Klaus Steinigers Artikel bestätigt das –, ist eine ehrliche und auf Fakten gestützte Analyse der Geschichte der DDR aus marxistischer Sicht.

Es wird zwar gesagt, daß die Geschichte von den Siegern geschrieben werde. Doch sollte man ihnen auch in diesem Falle das Monopol einräumen? Noch leben genügend Zeitzeugen, noch verfügen wir über ein wissenschaftliches Potential, über herausragende Wirtschaftsfunktionäre aus unseren Tagen, die durchaus dazu in der Lage sind, ein entzerrtes Bild unserer DDR zu präsentieren.

Als ich vor einiger Zeit befreundete Genossen mit einer solchen Idee konfrontierte, schauten sie mich verwundert an, und ein „Warum?“ stand im Raum. Meine Antwort lautete: Von unseren Klassikern und nicht nur von ihnen wissen wir, daß sich die menschliche Gesellschaft in einem ständigen Entwicklungsprozeß befindet. Urgemeinschaft – Sklavenhaltergesellschaft – Feudalismus – Kapitalismus. Und nur ein Tor glaubt der These, diese Entwicklung habe mit dem Kapitalismus ihren Abschluß gefunden. Immer mehr Menschen erkennen, daß dessen Gesellschaftsordnung keine ausreichenden Antworten auf die drängendsten Lebens- und Überlebensfragen der Menschheit findet. Der Sozialismus wird folgen. Wann das indes sein wird, wissen wir nicht. Doch wir müssen unseren Nachkommen überliefern, warum wir mit unserem ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden Schiffbruch erlitten haben, damit sich Fehler wie die von uns zu verantwortenden nicht wiederholen.