RotFuchs 235 – August 2017

Der Berliner Koalitionsvertrag und
die „weißen Flecken“ der Geschichte

Westberlin und der kalte Krieg

Dr. Reiner Zilkenat

Der von der SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der „Linken“ unterzeichnete Koalitions­vertrag enthält als ersten Punkt seiner Präambel Aussagen zur „herausgehobenen historischen Verantwortung Berlins“ (Zeile 29), die in ihrer, nennen wir es „Einseitig­keit“, nur Verwunderung und Kopfschütteln hervorrufen können. Daß in Koalitions­verträgen von der „Linken“ Gesten der Demut und der Unterwürfigkeit verlangt werden, daß die SPD und Bündnis 90/Die Grünen darauf abzielen, den Koalitions­partner als eine Partei erscheinen zu lassen, die sich ihrer Geschichte schämen und sich fortwährend von ihr distanzieren müßte – wer wollte es ihnen verdenken? Geschichte wird hier als ein wohlfeiles Instrument zur Demütigung eines ungeliebten Koalitionspartners mißbraucht. Bedenklich wird diese Angelegenheit erst dann, wenn die Repräsentanten der „Linken“, die derartige Verträge unterzeichnen, es ablehnen, den in ihnen formulierten, höchst einseitigen Interpretationen der Zeitgeschichte ihre Zustimmung zu verweigern und zugleich darauf zu dringen, die Aufarbeitung der „weißen Flecken“ der Geschichte Berlins in der Nachkriegszeit anzumahnen. Einige Beispiele sollen verdeutlichen, worum es geht bzw. gehen müßte.

Zum kalten Krieg, der eines seiner Hauptaktionszentren in Berlin hatte, heißt es im Koalitionsvertrag lapidar: „Berlin war auch die geteilte Stadt im kalten Krieg. Hier stand die von der SED-Führung errichtete Mauer als Manifestation der Teilung Deutschlands.“ (Zeile 45/46) Eine in mancherlei Beziehung geradezu groteske Be­hauptung.

Zum einen war die Teilung der Stadt nicht durch die Errichtung der Mauer am 13. Au­gust 1961 herbeigeführt worden, sondern durch die von den Westmächten am 24. / 25. Juni 1948 unverhofft durchgeführte Währungsreform in den von ihnen verwal­teten Sektoren der Stadt. Der ökonomischen Spaltung folgte fast zwangsläufig die politische Trennung. Diese Währungsreform war keine isolierte Aktion, sondern basierte auf einer strategischen Planung der Truman-Administration, die der Diplo­mat George F. Kennan bereits im Sommer 1945 mit folgenden Worten präzise defi­nierte: „Die Idee, Deutschland gemeinsam mit den Russen regieren zu wollen, ist ein Wahn. (…) Wir haben keine andere Wahl, als unseren Teil von Deutschland zu einer Form von Unabhängigkeit zu führen. (…) Besser ein zerstückeltes Deutschland, von dem wenigstens der westliche Teil als Prellbock für die Kräfte des Totalitarismus wirkt, als ein geeintes Deutschland, das diese Kräfte wieder bis an die Nordsee vorläßt.“ (George F. Kennan: Memoiren eines Diplomaten. Memoirs 1925–1950, 3. Aufl., Stuttgart 1968, S. 262 f.) Die Teilung Berlins und Deutschlands ergab sich aus der damaligen Strategie der USA, auf Dauer politische, militärstrategische und ökono­mische Vorherrschaft gegenüber der UdSSR zu erlangen.

Zum anderen war der Bau der Berliner Mauer am 13. Au­gust 1961 keineswegs „von der SED-Führung“ allein zu verantworten. Zugrunde lag vielmehr ein kurz zuvor ge­faßter Beschluß der Staaten des Warschauer Vertrages. Für jeden historisch Infor­mierten dürfte es unbezweifelbar sein, daß eine Maßnahme mit einer derart histo­rischen Tragweite, wie sie der Bau der Berliner Mauer darstellte, gegen den Willen des damaligen Ersten Sekretärs des ZK der KPdSU, Nikita Chruschtschow, vollkommen undenkbar war. Außerdem gilt auch hier, daß die Geschehnisse in Berlin nicht ohne die weltpolitische Lage und den mittlerweile eskalierten kalten Krieg zu verstehen sind.

In einem Berliner Koalitionsvertrag, der historische Ereignisse und Entwicklungen mit dem Ziel behandelt, ihre Aufarbeitung in den kommenden Regierungsjahren anzure­gen, sollte nicht nur vom ehemaligen Ostsektor bzw. der Hauptstadt der DDR die Rede sein. Vielmehr ist die Erwartung naheliegend, daß auch eine kritische und selbstkritische Aufarbeitung des Regierungshandelns sowie der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Westberlin seit der Befreiung vom Faschismus ange­strebt wird. Doch hierzu findet sich im Koalitionsvertrag kein einziges Wort. Um welche Themen ginge es?

Wenn wir die Zeit des kalten Krieges betrachten, sollten die zahlreichen Organisatio­nen in den Blick genommen werden, die von Westberlin aus den Kampf gegen die DDR auf ihre Fahnen geschrieben hatten. Ihre Zahl war unermeßlich groß. Ihre getarnten Büros waren über ganz Westberlin verteilt. Es handelte sich dabei vor allem um das „Ost-Büro“ der SPD, die „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ (KgU) und den „Untersuchungsausschuß freiheitlicher Juristen“, die angesichts offener Grenzen ihren Kampf gegen die DDR forcieren konnten. Die Organisation von geheimen Strukturen innerhalb der SED, Sabotage- und Terroranschläge gegen die Infrastruktur und Industrie, die Anlage von Dossiers über Zehntausende Staats- und Parteifunk­tionäre, Desinformation mittels Verbreitung von geschmuggelten Flugblättern und Schriften (vornehmlich an Oberschulen und Universitäten), die systematische Abwerbung von Fachkräften und angehenden Akademikern – alles das und noch weitaus mehr hatten sich die oben genannten Organisationen ebenso auf ihre Fahnen geschrieben wie die mit zahlreichem Personal anwesenden westalliierten Geheim­dienste. John C. Ausland, Diplomat und im Jahre des Mauerbaus Mitarbeiter der „Berlin Task Force“ im State Department der USA, formulierte den Zweck derartiger Aktivitäten mit den dankenswert offenen Worten: „Ein Großteil unserer Planungen war darauf ausgerichtet, eine Wiederholung der Ereignisse vom 17. Juni 1953 herbeizuführen.“ (Zitiert bei David G. Coleman: Eisenhower and the Berlin Problem, 1953–54, in: Journal of Cold War Studies, Vol. 2, No. 1, Winter 2000, S. 18) Von Westberlin aus war die geballte Kraft westlicher Geheimdienste und zahlreicher, von ihnen alimentierter Organisationen gegen die junge DDR in Stellung gebracht worden. Wäre es nicht ein lohnendes Projekt, das Personal, die Planung, Finanzierung und Logistik solcher Aktivitäten und besonders ihre Unterstützung von seiten deutscher Dienststellen zu erforschen, die vom Westen der Stadt aus ihr Unwesen gegen die DDR trieben? Spielten zum Beispiel das Landesamt für Verfassungsschutz und der Innensenator bei alledem eine Rolle? Welche bundesdeutschen Dienststellen in Westberlin (vor allem der Bundesnachrichtendienst oder die Dependancen der bundesdeutschen Ministerien) müßten in den Blick genommen werden?

Da die britischen und US-amerikanischen Akten mittlerweile weitgehend zugänglich sind – manche wichtige Unterlagen der CIA und der damaligen Präsidenten der USA finden sich sogar im Internet –, würde eine mit finanziellen Mitteln des Senats vorgenommene Aufarbeitung dieser Themen sicherlich wichtige Erkenntnisse über die „Halbstadt“ Westberlin und ihre herausragende Rolle im kalten Krieg zutage fördern. Von Zeithistorikern, vor allem aus den USA, ist hierzu bereits manches Erhellende erforscht und publiziert worden. Das sollte allerdings kein Ersatz für ein Studium der Westberliner Akten und für eine vom rot-rot-grünen Senat alimentierte Schriftenreihe sein, die für die politische Bildung und alle historisch Interessierten zur Verfügung stünde. Hierbei bestünde allerdings die Gefahr, daß von vielen Mythen zur Geschichte Westberlins im kalten Krieg, bei denen die Teilstadt seit Jahrzehnten die Rolle als „Opfer“ zugewiesen bekommt, Abschied genommen werden müßte.

Sind die wenigen Sätze über den kalten Krieg im Koalitionsvertrag kritisierenswert, so ist die völlige Außerachtlassung der Opfer des kalten Krieges in Westberlin ein Skandal, der seinesgleichen sucht.

Bereits mit dem Einmarsch der westalliierten Truppen im Juli 1945 in ihre Sektoren begann ein sich allmählich beschleunigender Prozeß der Behinderung und Diskrimi­nierung, ja der Verfolgung legaler und legitimer Aktionen von Kommunisten und ihren Sympathisanten im Westen der Stadt. Hierbei standen 1945/46 vielfältige Aktivitäten im Mittelpunkt, die eine Vereinigung von SPD und KPD zu einer Einheitspartei verhin­dern sollten. Nach der Konstituierung der SED unternahmen die in Westberlin tätigen Militäradministrationen und die Westberliner Autoritäten alles Erdenkliche, um die Mitglieder der SED auszugrenzen, ihre politischen Aktionen zu unterbinden und sie strafrechtlich zu verfolgen. Im Berliner Landesarchiv finden sich zahlreiche Akten, die derartige Machenschaften dokumentieren.

Und weiter: In den fünfziger Jahren wurden zum Beispiel Genossen, aber auch partei­lose Westberliner, die Unterschriften für die Ächtung der Atombombe sammelten („Stockholmer Appell“), verhaftet, vor Gericht gestellt und zu Geld- sowie einige von ihnen sogar zu Haftstrafen verurteilt. Es wurden bei ihnen Haussuchungen durchge­führt. Das Hissen einer roten Fahne am 1. Mai konnte zu polizeilichen Ermittlungen führen. Eine besonders perfide Maßnahme war der Kampf der Justiz und der zustän­digen Senatsbehörden gegen Antifaschisten, die Renten als Opfer des braunen Terrors beantragten. Ihnen wurde als Mitglieder der SED oder der VVN in den meisten Fällen eine Rentenzahlung deshalb verweigert, weil sie Anhänger bzw. Mitglieder einer „totalitären“ Partei seien. Dies betraf in nicht wenigen Fällen Personen, die jahrelang in Hitlers Konzentrationslagern und Gefängnissen eingesperrt waren. Auch hierzu existiert aussagekräftiges Material (Gerichtsakten, Schriftwechsel) in Archiven, aber auch in privaten Händen. Wann wird endlich dieses ungeheuerliche Verhalten gegenüber Antifaschisten seit den fünfziger Jahren in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt? Wer, wenn nicht die Vertreter der „Linken“, sollte dies bei der Gelegenheit von Koalitionsverhandlungen anmahnen? Wäre es in diesem Zusammen­hang nicht auch sinnvoll, etwaige Kontinuitäten beim Personal von Verwaltung, Justiz und Polizei zu untersuchen? War nicht manch ein Richter oder Verwaltungs­beamter, der über den Antrag eines Opfers des Faschismus entschied, vor 1945 bereits in Amt und Würden? Wie viele Mitglieder der NSDAP, der SA und SS waren nach der Befreiung vom Faschismus Mitarbeiter des Senats? Wenn es im Koali­tionsvertrag heißt, „die Orte der Täter und der Opfer sind wichtiger Bestandteil der Erinnerungskultur“ (Spalte 43/44), dann ließe sich doch hieran anknüpfen. Allmählich lassen die Bundesministerien, zum Beispiel das Auswärtige Amt, diese Fragen erfor­schen und publizieren die Ergebnisse. Sollte das nicht auch eine „Vorbildfunktion“ für den rot-rot-grünen Senat haben? Wäre es nicht interessant zu erfahren, wie viele ehe­mals braune Polizisten, höhere Verwaltungs- und Justizbeamte beim Senator des Innern oder in den Berliner Gerichten tätig waren? Mehr als 70 Jahre nach dem Ende des braunen Terror-Regimes bestünde ja nicht mehr die Gefahr, daß auch nur ein einziger dieser Beamten noch im Amte wäre; die ältesten Betroffenen haben mittler­weile das 90. Lebensjahr überschritten und genießen ihre Pension – falls sie über­haupt noch am Leben sind.

Zum Abschluß sei ein Thema hervorgehoben, das dringend einer kritischen Aufarbei­tung harrt: die Berufsverbote im Westberlin der 70er und 80er Jahre. Daß die SPD Furcht vor einer Untersuchung dieser undemokratischen Thematik haben müßte, ist nicht ganz zutreffend. Zwar waren es sozialdemokratische Senatoren und Regierende Bürgermeister, die sich dazu hergaben, Tausende Lehramts- und andere Beamtenan­wärter zu beschnüffeln und auszuhorchen, aber sozialdemokratische Persönlich­keiten wie der langjährige Chef der Senatskanzlei, Innensenator und Regierende Bürgermeister Heinrich Albertz traten mehrfach auf öffentlichen Protestkundge­bungen gemeinsam mit Betroffenen auf und protestierten damit gegen die Bespitze­lungsaktivitäten ihrer Senats-Genossen, die systematisch „das Leben der Anderen“ ausforschen ließen.

Aus diesem Grunde hätte auf seiten der „Linken“ nicht befürchtet werden müssen, daß die SPD-Seite bei Koalitionsverhandlungen dieses Thema nicht in die Präambel des Koalitions­vertrags zur Geschichtsaufarbeitung aufgenommen hätte. Statt die in diesem Beitrag skizzierten, überaus wichtigen Themen zum Gegenstand der Koali­tionsverhandlungen zu machen, sind die Repräsentanten der „Linken“ offenbar gemütlich auf der Welle des Zeitgeistes in den Senat geschwommen. Dieser Zeit­geist ruft uns zu: Opfer des kalten Krieges gab es nur in der DDR! Kritisierens­werte und zu verurteilende Praktiken von Geheimdiensten? Das war allein Sache des Staatssicher­heitsdienstes! Verantwortung dafür zu übernehmen? Das ist notwendig ausschließ­lich für Mitarbeiter des MfS, selbst dann, wenn sie nur wenige Monate tätig waren und ihnen nichts konkret an Straftaten nachzuweisen ist.

Worum es geht, ist die längst überfällige juristische, politisch-moralische Rehabili­tierung und – soweit dies noch möglich ist – finanzielle Entschädigung der Opfer des kalten Krieges in Westberlin. Für die Koalitionäre der „Linken“ aber gilt: Wer so mit der Geschichte umgeht, weckt zugleich Zweifel an seiner Seriosität im politi­schen Alltagsgeschäft.