Wider die Legende von der Solidargesellschaft
Ein Begriff geistert durch die Berliner Sektion der Partei Die Linke: Solidargesellschaft. Klingt gut, ist aber eher unklug. Erfunden haben ihn weder die Schweizer noch Karl Marx, sondern ein Neudenker der Gruppe Internationale Marxisten (GIM), wie sich die deutsche Sektion der trotzkistischen Vierten Internationale bezeichnet, nämlich Winfried Wolf. Zu dessen Genossen an der Berliner Freien Universität gehörte in den späten 70er Jahren auch der Diplom-Politologe Harald Wolf. Da „Politologie“ nicht dasselbe wie „Gesellschaftswissenschaft“ ist, und Absolventen dieses Studienganges – so auch die vorgenannten – oft ihr erstes Brot als Journalisten linker Blätter verdienen, tun sie sich nicht schwer mit Wortschöpfungen, die sie als Begriffe behandeln, ohne sie je zu definieren oder gar ihre praktische Existenz zu prüfen.
Der emeritierte Professor der Wirtschaftswissenschaften der Berliner Humboldt-Universität und Mitarbeiter des Instituts Solidarische Moderne (ISM) Dieter Klein bemühte sich in seiner Schrift „Das Morgen tanzt im Heute“ (Hamburg 2013) um eine „moderne Erzählung“ vom oben erwähnten Solidar-Dingsbums. Kernaussage: „Weder die vielgestaltige Linke in Deutschland noch gar die europäische Linke verfügen über eine gemeinsame Vorstellung von den Konturen der von ihr erstrebten Gesellschaft.“ Er selbst leider auch nicht. Statt dessen verweist er auf das äußerst knappe „Gesellschaftsbild“ des Professors für Politikwissenschaft Rolf Reißig, dargestellt in einer Tabelle zu dessen Schrift „Gesellschaftstransformation im 21. Jahrhundert“. Dort heißt es: „Demokratie, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit (werden) die regulierende, integrierende und orientierende Grundidee für alle Bereiche der Gesellschaft. Ein Gesellschaftsmodell, das vom Menschen als Sozialwesen und dessen Bedürfnisse[n] und Wünsche[n] nach einem humanen, gerechten und solidarischen Gemeinwesen ausgeht.“ Präziser: „Die Solidargesellschaft ist das Modell des solidarischen Gemeinwesens.“ Prof. Rolf Reißig, einstmals Institutsdirektor an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und seit vielen Jahren „Revidierer“ von Marx und Lenin, analysiert nicht das Sein der Menschen, sondern gibt seiner Wunschidee einen freundlichen Namen. Ansonsten gilt die „freiheitlich-demokratische Gesellschaft“. In einer Besprechung der Studie bringt es Raj Kollmorgen auf den Punkt: Es handle sich um ein „flimmerndes Untersuchungsobjekt und analytische Leerstellen“.
Nun hat der vom Senator für Wirtschaft zum „Verkehrsexperten“ der Fraktion Die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus abgestiegene Harald Wolf der PDL bei deren jüngsten Landesparteitag einen ersten Schritt in Richtung auf die Wunschgesellschaft, das Modell eines solidarisch finanzierten Jahrestickets im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) „für alle Berlinerinnen und Berliner“ unter dem Kosenamen „Öffi-Flatrate“ vorgestellt. Er brachte die Delegierten dazu, mehrheitlich zu beschließen, dieses Konstrukt zum Bestandteil des PDL-Wahlprogramms 2016 zu machen. Ökonomisch betrachtet handelt es sich aber nicht um einen freiwilligen Solidaritätsbeitrag, sondern um eine Pflichtabgabe aller Einwohner Berlins (mit gewissen sozialen Abstufungen) an den Landeshaushalt. Rund 900 Mio. € sollen so jährlich in die Kasse des Senats gespült werden.
Die Abenteuerlichkeit dieser Wunschidee wird deutlich, wenn man in Betracht zieht, daß derzeit weniger als ein Viertel der Berliner im „zahlungsfähigen Alter“ eine Jahres- oder Monatskarte erwirbt und 1,3 Millionen PKW-Benutzer ihre Fahrzeuge wohl nicht deshalb stillegen dürften, um das Modell des „Verkehrsexperten“ zu realisieren. Mit großer Geste verweist Wolf auf weltweit drei bis vier Beispiele für fahrscheinfreien ÖPNV. In Templin (16 000 Einwohner), der Startrampe für den kometenhaften Aufstieg Angela Merkels, dauerte es genau fünf Jahre, bis die Stadtverwaltung wieder zum „Fahrschein auf Verlangen“ zurückkehrte. Sie wollte den ÖPNV mit Landeszuschüssen und Einnahmen aus der Kurtaxe finanzieren.
Die belgische Stadt Hasselt (76 000 Einwohner) hielt das Experiment immerhin 16 Jahre durch, in deren Verlauf die Kosten des ÖPNV um 60 % stiegen, während die „Gegenfinanzierung“ durch Parkgebühren zusammenbrach. Das französische Ballungsgebiet Aubagne (100 000 Einwohner) im „Speckgürtel“ von Marseille läßt seit 2009 seine Bürger fahrscheinfrei fahren, besitzt aber ein ganz anderes Finanzierungskonzept. Man bittet nicht die Bevölkerung für die Kosten des ÖPNV aufzukommen, sondern ersucht die lokalen Unternehmen mit mehr als neun Beschäftigten durch eine Umlage auf die Lohnkosten den Betrag aufzubringen. Dafür steuern die städtischen Busse immerhin sämtliche Fabriken an.
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