Wie Archie der Armut begegnete
Weil wir arm sind, können wir uns dieses oder jenes nicht leisten, kaufen oder leihen. Solche Sätze mußte Archie in der Kindheit von seiner Mutter ständig hören. Der Vater antwortete erst gar nicht, wenn es sich um Kinokarten, Zirkusbilletts oder ein kleines Modellauto handelte. … Bei Anschaffungen größerer Art wie Schuhen oder einer warmen Winterjacke wurde es geradezu dramatisch. Selten hat Archie etwas Neues erhalten, meist waren es getragene Klamotten.
Ständige extreme Armut bleibt nicht ohne psychische Auswirkungen. Das trifft bekanntlich auch auf heutige Hartz-IV-Empfänger zu. Das Selbstbewußtsein von Kindern wird durch ständiges Verzichtenmüssen und bedrückenden Mangel auf Dauer beschädigt. Die Kleinen passen sich extrem an, neigen zu Minderwertigkeitskomplexen oder geraten auf die schiefe Bahn. Viele flüchten sich auch in eine Scheinwelt.
In Archies Breslauer Kinderzeit waren die Kinos immer voll. Auf dem Programm standen vorwiegend UFA-Lustspiele oder Kriegsfilme. Heute haben das Fernsehen und der Computer diese Funktion übernommen.
Was das „tägliche Brot“ betrifft, so herrschte damals das Prinzip: Es muß viel sein und satt machen. Dennoch waren die Männer im Proletarierviertel meist hager und etliche von ihnen geradezu dürr. Sie schufteten auf dem Bau oder in Fabriken. Die Frauen hatten meist keinen Beruf. Küche, Kinder und Kochen waren die ihnen zugewiesene Welt, wobei nicht wenige dick wurden. Zum Einkauf gingen sie in den Kolonialwarenladen, wie solche Geschäfte damals hießen. Dort gab es das Billigste, und man konnte vor allem anschreiben lassen.
Die Menschen in diesen Arme-Leute-Vierteln starben meist eher als Betuchte. Weil du arm bist, mußt du früher sterben – diese Norm traf auch auf Archies Verwandtschaft zu. Handwerksgehilfen oder ungelernte Arbeiter wurden selten älter als 60 oder ein bißchen mehr. Dann forderte der Krieg seinen schrecklichen Tribut. Nach der Zerschlagung des deutschen Faschismus verschlechterten sich die Lebensbedingungen aufgrund der Zerstörungen und des allgemeinen Mangels zunächst dramatisch. Die Menschen – darunter auch die durch den Hitler-Krieg zur Flucht Gezwungenen – stopften alles in sich hinein, um wenigstens satt zu werden. Gekochte Kartoffelschalen und Zuckerrübenschnitzel waren da willkommen. Von ausgewogener Ernährung konnte in den armen Bevölkerungsschichten ohnehin niemals die Rede sein.
Nach einer kriegsbedingten Odyssee durch verschiedene deutsche Provinzen schnupperte der kleine Flüchtling dann in der Lausitz notgedrungen etwas Landluft. Er ging Kartoffeln stoppeln, Ähren lesen, Rüben verziehen und Viehställe reinigen. So bekam er zumindest eine Vorstellung von frischen Produkten, welche von Höfen stammten, die man heute als Bio-Lieferanten bezeichnen würde.
Später begriff Archie, daß viele Probleme im „Agrarsektor“ erst durch massierten Einsatz von Chemie und die Massentierhaltung entstanden. Diese rote Linie zieht sich bis in die umstrittene „moderne“ Produktionsweise des Kapitalismus, für den die Verpackung weit wichtiger ist als der Inhalt.
Auf dem Dorf litten die Mägde und Knechte ebenso unter miserablen Lebensumständen wie unter den Unbilden der Witterung, während die Gutsbesitzer auf ihren Plüschsofas in den Herrenhäusern von all dem verschont blieben.
Diese Ära galt als „die gute alte Zeit“ vor der Bodenreform, die uns die inzwischen zurückgekehrten Halsabschneider als paradiesisch weismachen wollen. Heute soll ja alles besser sein als vor der „Wende“, wird behauptet. Denkste!
Ohne Zweifel hat sich die durchschnittliche Lebensdauer der Menschen durch eine Reihe von Umständen merklich verlängert, obwohl die alte Trennung zwischen den Klassen auch in dieser Hinsicht fortbesteht. „Arm stirbt früher“ war ein Artikel in der Mai-Nummer des Magazins „Focus“ überschrieben. Eine Studie des Robert-Koch-Instituts belegt, was dann der Ärztetag bestätigte: Wer wenig Geld hat, wird eher krank. Frauen mit schmalem Budget und geringer Qualifikation neigen viermal eher zu Fettleibigkeit als gutverdienende und hochqualifizierte Vertreterinnen ihres Geschlechts. Die Möglichkeit, sich durch Sport fit zu halten, ist in „bildungsfernen Schichten“ fünfmal geringer als im „gehobenen Milieu“, besagt die Studie. Diese Kluft habe sich in den letzten Jahren weiter vertieft.
Die Lebenserwartung in der BRD ist durch die Klassenzugehörigkeit – schamhaft als „Schichtenabhängigkeit“ umschrieben – nach wie vor weitgehend bedingt. Das hänge damit zusammen, daß in ärmeren Kreisen zu viel geraucht und getrunken werde, wobei man den Sport vernachlässige, behaupten bürgerliche Soziologen. Archie hingegen meint, jeder sollte sich zu dem im Kapitalismus wurzelnden Prinzip „Weil du arm bist …“ seine Meinung bilden, dabei aber die gesamte Gesellschaftsstruktur auf den Prüfstand stellen. Da liest man zum Beispiel, daß nach Angaben des Deutschen Kinderschutzbundes drei Millionen in der BRD lebende Mädchen und Jungen nicht die Ferien genießen könnten. Für sie sei ein Verreisen tabu. In den vergangenen zehn Jahren habe sich die Zahl der kleinen BRD-Bewohner, die wegen der finanziellen Klammheit ihrer Eltern daheim bleiben müßten, um 50 % erhöht. Andererseits sollten sich jene, welche 40 Jahre und länger gearbeitet haben, aus Kostengründen doch Alten- und Pflegeheime im Ausland suchen, wird empfohlen.
Hier ist daran zu erinnern, daß die Ferienlager in der DDR wie auch Krippen und Kindergärten eine Errungenschaft waren, von der niemand ausgeschlossen wurde. Geldfragen spielten da keine Rolle. Archies eigene Kinder schwärmen noch heute davon, doch bei Enkeln und Urenkeln heißt es dann schon wieder: Wer hat das bestellt? Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld?
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