Wie die DDR zu meiner
zweiten Heimat wurde
Wer wie ich 1924 als viertes Kind eines Arbeiters in Deutschland geboren wurde, kann gewiß nicht nur auf glückliche Zeiten zurückblicken. An meinem neunten Geburtstag war mein Vater bereits vier Jahre arbeitslos. Einen Tag später wurde er nach einer kommunistischen Versammlung auf der Heimfahrt von einem Lieferwagen aus dem Fahrradsattel gerissen und sterbend auf der Straße liegengelassen. Weil er gegen den aufkommenden Faschismus kämpfte, ermordete man den gerade 43jährigen Vater von fünf Kindern. Daß seine drei Söhne in Hitlers vom Kapital gewünschten und finanzierten Mordfeldzug umkamen, hat er nicht mehr erlebt, aber leider auch nicht den Tag der Befreiung durch die Rote Armee.
Nach dem Krieg lebten wir unweit von meiner Geburtsstadt Köln auf dem Lande. Mein Freund, von Beruf Melker, war Holländer. Mit ihm hatte ich im Krieg zwei Ukrainer, meinen desertierten ältesten Bruder, der später einer Kriegsverletzung erlag, und einen Jugoslawen versteckt.
1945 war Köln kaum noch zu erkennen. Zunächst gab es weder Wasser noch Strom, und wie überall mangelte es an Nahrung. Während demokratische Parteien und Jugendorganisationen wieder zugelassen wurden, saßen zugleich alte Faschisten weiterhin in hohen Ämtern.
Als meine KPD unter Adenauer verfolgt und später verboten wurde, sahen sich viele Genossen der Verfolgung durch die alte „neue“ Justiz ausgesetzt. Auch ich war betroffen. Zweimal saß ich in Köln in Untersuchungshaft. In einem Falle hielt man mich für „hinreichend verdächtig“, an einem verbotenen Jugendtreffen in Ostberlin teilgenommen zu haben.
Als der Darmstädter Pfarrer Herbert Mochalski zu einem Friedenstreffen der westdeutschen Jugend aufrief, das am 11. Mai 1952 in Essen stattfinden sollte, fand das großen Anklang. Viele Tausende kamen. An jenem Tag wurde der junge Kommunist Philipp Müller von der Polizei erschossen.
1954 – ich war Mutter zweier Kinder und lebte von deren Vater getrennt – hatte ich keine Arbeit. Damals überbrachte mir ein Genosse die Einladung für zehn westdeutsche Kinder in ein Ferienlager des VEB Mineralölwerk Lützkendorf. Doch die Hetze gegen die DDR verfehlte ihre Wirkung nicht: Mehrere von mir angesprochene Eltern ließen ihre Kleinen aus Angst, sie würden nach Sibirien verschleppt, nicht mitfahren. Mit meinen 6 und 9 Jahre alten eigenen Kindern, dem Töchterchen des Überbringers der Einladung und einem Jungen aus Euskirchen reiste ich ins Ferienlager nach Großbreitenbach. Dort riet mir eine Helferin: „Wenn Du erwerbslos bist, dann komm doch einfach zu uns rüber, hier kriegst Du sofort Arbeit.“ Schon 14 Tage später saßen wir im Zug nach Magdeburg. Seitdem lebte und arbeitete ich in der DDR. Bereits drei Tage nach unserer Ankunft war ich vollbeschäftigt. Die Kinder bekamen im Anschluß an den Unterricht ihr warmes Mittagessen und wurden im Hort betreut.
Über zehn Jahre blieb ich parteilos, war aber gewerkschaftlich aktiv – zuerst als Vertrauensfrau, dann als AGL- und BGL-Mitglied. Man wählte mich zur Schöffin am Kreisgericht Merseburg. Ich leitete einen Malzirkel für Kinder, gehörte einem Keramikzirkel an und arbeitete in der Klubkommission des DFD. Außerdem engagierte ich mich im Filmaktiv. Auch zu den Volkskorrespondenten zählte ich.
Wenn für die DDR Prädikate vergeben werden sollten – ich hätte eine ganze Menge parat: Sie war ein friedliches Land, in dem man den Gedanken der Völkerfreundschaft allenthalben spürte. Sie war reich an Kindern, deren soziale Herkunft bei der Förderung keine Rolle spielte. Die Volkspolizei mußte keine Naziaufmärsche beschützen, weil sie zu DDR-Zeiten undenkbar gewesen wären.
Dabei mag es durchaus auch im Osten Leute gegeben haben, in deren Köpfen faschistisches Denken weiter herumspukte. Die DDR-Bürger mußten aber keine Zivilcourage bei der Abwehr von Naziübergriffen beweisen, da Braune auf dem Boden ihres Landes kein warmes Nest fanden.
Für mich und meine Kinder wurde die DDR zur zweiten Heimat, die wir nie verlassen hätten.
Nachricht 2004 von 2043
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