RotFuchs 208 – Mai 2015

Wie sich die Häftlinge selbst befreiten

Ulrich Schneider

Ein zentrales Ereignis in der Geschichte des Konzentrationslagers Buchenwald ist die Vorbereitung der Selbstbefreiung der Häftlinge am 11. April 1945. Es zeigt, daß sogar unter den Bedingungen der faschistischen Terrorherrschaft ein gemeinsamer Überlebenswille, der sich über nationale Grenzen hinweg entwickelte, in der Rettung von über 20 000 Häftlingen mündete. Seit 1990 wird bei dem Versuch der ideologischen Abwicklung der antifaschistischen Geschichte Buchenwalds alles unternommen, die Selbstbefreiung als „DDR-Mythos“ oder „kommunistische Legendenbildung“ zu verunglimpfen.

Die historischen Tatsachen sprechen jedoch eine eindeutige Sprache. Bereits 1943 beauftragte das illegale Internationale Lagerkomitee (ILK) politisch zuverlässige Häftlinge, zum Selbstschutz eine Militärorganisation aus entsprechend erfahrenen Häftlingen aufzubauen. Unter Leitung von Otto Roth wurden politisch bewußte deutsche, französische und sowjetische Häftlinge hierfür ausgewählt und ausgebildet. Die deutschen Häftlinge nutzten die Möglichkeiten des Lagerschutzes und der Lagerfeuerwehr, um solche Strukturen unter den Augen der SS zu schaffen.

Nun mußte für eine angemessene Bewaffnung des Selbstschutzes gesorgt werden. Über Monate hinweg wurden Pistolen und Munition aus den Beständen der SS organisiert und an sicheren Plätzen deponiert. Aus der Karabinerproduktion in den Gustloff-Werken wurden Waffenteile ins Lager geschmuggelt und dort zusammengesetzt. Die sowjetischen Häftlinge stellten zahlreiche Brandflaschen sowie Hieb- und Stichwaffen aus ganz einfachen Materialien her. Anfang 1945 gelang es sogar, bei der Räumung eines Evakuierungstransports ein komplettes Maschinengewehr in das Lager zu schmuggeln.

So bereitete man sich praktisch auf den Schutz der Häftlinge angesichts einer befürchteten Vernichtung der Lagerinsassen beim weiteren Vormarsch der Alliierten vor. Eine bewaffnete Aktion gegen die SS war jedoch erst möglich, als sich das Kräfteverhältnis durch eine deutliche Schwächung der SS zugunsten der Häftlinge verschob.

Diese Situation ergab sich Anfang April, als noch über 50 000 Häftlinge im Lager waren. Der militärische Vormarsch der Roten Armee im Osten und amerikanischer Truppen durch Hessen in Richtung Westthüringen führte zu der Überlegung, militärische Schritte zu unternehmen. Am 2. April lehnte das Internationale Lagerkomitee zwar einen bewaffneten Aufstand ab, forderte aber, die geplante Evakuierung des Lagers zu verzögern. Die folgenden Tage waren an Dramatik nicht zu überbieten. Einerseits schickte die SS Gruppen von Häftlingen auf Todesmärsche, andererseits trafen Tausende Häftlinge aus den Außenlagern auf dem Ettersberg ein. Gleichzeitig wurde sichtbar, daß die SS-Führung Absetzbewegungen vorbereitete. Dazu gehörte die Vernichtung von Unterlagen, aber auch der Versuch, politische Gegner noch in letzter Minute zu ermorden. Als am 6. April dann von der SS 46 durch sie zur illegalen Lagerleitung gezählte Häftlinge ans Tor gerufen wurden, zeigte sich der Widerstand: Keiner folgte der Aufforderung. Das Lager versteckte die Gesuchten vor dem Zugriff der SS.

Noch waren die Häftlinge nicht stark genug, weitere Deportationen zu verhindern. Doch bei einigen Transporten schickte man Angehörige der Militärorganisation mit, die Handfeuerwaffen bei sich hatten.

Erst als am 10. April der Großteil der SS-Einheiten und die Lagerführung den Ettersberg verlassen hatten, schien militärisches Handeln gegen einen immer noch mächtigen Feind möglich. Als unweit des Lagers Spitzen amerikanischer Panzerkräfte eintrafen, erteilte das ILK am 11. April um 14.30 Uhr dem Leiter der Militärorganisation den Befehl zum Aufstand. Die bewaffneten Kampfgruppen der Häftlinge erstürmten das Haupttor, schalteten den Strom im Stacheldrahtzaun ab, besetzten die Wachtürme und eroberten Waffen. Um 15.15 Uhr verkündete der Lagerälteste Hans Eiden: „Kameraden, wir sind frei!“ Die bewaffneten Häftlinge nahmen etwa 220 Angehörige der SS und andere Nazis gefangen.

Zwei amerikanische Aufklärer waren – wie es 1945 in einer US-Militärzeitung hieß – völlig überrascht, als sie auf bewaffnete Häftlinge stießen, die den Schutz des befreiten Lagers übernommen hatten. Am 13. April 1945 wurde Buchenwald dem Befehlshaber der III. US-Armee unterstellt.

Aus: Die Glocke vom Ettersberg 1/2015 (redaktionell leicht bearbeitet)
Der Autor ist Generalsekretär der FIR und einer der Bundessprecher der VVN-BdA.