Von den Anfängen der Jugendhochschule am Bogensee
Wilhelm Pieck las die Eröffnungslektion
Im Januar 1951 – ich war damals Agitations- und Propaganda-Sekretär der FDJ-Kreisleitung im mecklenburgischen Demmin – traf der Jugendverband eine für mein ganzes weiteres Leben weichenstellende Entscheidung: Er delegierte mich zum ersten Einjahreslehrgang an die Jugendhochschule am Bogensee, die dann jahrzehntelang Wilhelm Piecks Namen trug. Vom Marxismus-Leninismus hatte ich bis dahin gerade einmal soviel mitbekommen, wie mein Bürge in der SED – der damalige Leiter unserer Kreisparteischule Bruno Follmann – mir an langen Abenden beizubringen vermochte. Er gab mir stets etwas zum Lesen – natürlich das „Kommunistische Manifest“, aber auch viel aktuelle Literatur. Anschließend diskutierten wir über den von mir jeweils bewältigten Stoff.
Nun sollte ich ein ganzes Jahr lang marxistische Philosophie, politische Ökonomie sowie die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der deutschen Arbeiterbewegung systematisch studieren können. Das empfand ich als Glück.
Die im Barnim – einer Landschaft Brandenburgs – gelegene Jugendhochschule bestand damals lediglich aus Holzbaracken mit Seminarräumen und unseren Unterkünften. Hinzu kamen ein Vorlesungssaal und ein festes Gebäude, bei dem es sich um die jetzt humanistischen Zwecken dienende einstige Villa des Nazi-Cheflügners Joseph Goebbels handelte. Darin befanden sich der Speisesaal und die Küche.
Der Tag begann für uns mit Sport. Nach dem anschließenden Frühstück hatten wir Unterricht. Unsere Lehrer waren überwiegend Genossen, die an Antifa-Schulen für Kriegsgefangene in der Sowjetunion ihr politisches Wissen erworben hatten.
Unvergeßlich bleibt mir die Eröffnungslektion, die Wilhelm Pieck hielt. Vier Stunden lang sprach der kampferfahrene Präsident der jungen DDR – stehend und ohne Manuskript – über deutsche Geschichte, von den Bauernkriegen bis zur Gegenwart. Abends saß er mit uns am Lagerfeuer, wo wir gemeinsam Kampf- und Jugendlieder sangen.
Da ich der Literaturobmann unserer Seminargruppe war, hatte ich die Aufgabe, das jeweils Notwendige an Büchern und Broschüren zu beschaffen und es den Teilnehmern des Lehrgangs zum Kauf anzubieten. Von unserem Stipendium – es betrug nach meiner Erinnerung 130 Mark – waren 30 Mark für den Erwerb von Büchern vorgesehen, was indes nie reichte, obwohl diese in der DDR sehr wenig kosteten.
Vorlesungen, Selbststudium und Seminare wechselten einander ab. Hinzu kam „Ausgleichsarbeit“: Wir rodeten Baumstubben im umliegenden Wald, um für die später errichteten repräsentativen Schulgebäude Platz zu schaffen. Mit dem Holz beheizten wir unsere Quartiere.
Zweimal wöchentlich wurden Filme gezeigt. Uns begeisterten die frühen DEFA-Streifen und sowjetische Produktionen. Unvergeßlich blieb mir „Wie der Stahl gehärtet wurde“. Als mir jedoch einer der Filme weniger gefiel, hielt ich damit nicht hinter dem Berg und heftete einen Artikel an die Wandzeitung. Das ging daneben, handelte es sich bei den Helden des Geschehens doch um ein blindes Mädchen, aber auch um führende Funktionäre der KPdSU. So übte ich Selbstkritik – an gleicher Stelle.
Ein besonderer Höhepunkt war für uns der Einsatz vor und während der 3. Weltfestspiele der Jugend und Studenten, die im August 1951 in Berlin stattfanden. Für die Dauer des Festivals waren wir dem Internationalen Organisationskomitee zugeteilt. Als einer der „Kuriere“ begab ich mich auf die Suche nach ungarischen Fahnen, die während eines Fußballspiels im Stadion abhanden gekommen waren, weil man sie mit den italienischen Farben eines damals sehr populären Spielers verwechselt hatte. Wir beschafften Holz für das Friedensfeuer bei der Kundgebung mit dem KPD-Vorsitzenden Max Reimann und der französischen Friedenskämpferin und Kommunistin Raymonde Dien, die sich in der Absicht, einen Waffentransport für den Kolonialkrieg gegen das vietnamesische Volk zu blockieren, auf die Schienen gelegt hatte. Und wir organisierten die Verpflegung der koreanischen Delegation, deren Teilnehmer damals direkt von der Front des Kampfes gegen die US-Aggressoren gekommen waren und deshalb die ganz besondere Sympathie aller Festivalteilnehmer genossen.
Nachdem wir das Studium am Bogensee wieder aufgenommen hatten, faßte der FDJ-Zentralrat seinen populären Beschluß über das „Frohe Jugendleben“. Zu Sport- und Kulturveranstaltungen, die es bereits gab, kamen jetzt auch noch Tanzkurse. Die Mädchen waren da besser und erklärten sich deshalb zu Patenschaften über uns Jungen bereit. Sie brachten uns Walzerschritte und Foxtrott bei. Einige erlernten in jener Zeit auch das Klampfe-Spiel. Alles in allem erinnere ich mich an unsere Jugendhochschulzeit immer wieder mit großer Freude.
Vielen Absolventen des 1. Einjahreslehrgangs wurden später verantwortungsvolle Aufgaben in der SED und im Staatsapparat übertragen. Manchen begegne ich heute noch. So ist Genosse Fritz Ulrich, der vor seinem Besuch der Hochschule die Funktion des 1. Kreissekretärs der FDJ im traditionellen Berliner Arbeiterbezirk Wedding bekleidet hatte, heute trotz schwerer Krankheit einer der Aktivsten in unserer hauptstädtischen „RotFuchs“-Regionalgruppe. Und Peter Eichberg, der ebenfalls mit mir am Bogensee war, wirkt da nicht minder zuverlässig mit.
Nach Errichtung der neuen Gebäude der Jugendhochschule wurde sie technisch auf das modernste ausgestattet. Sie entwickelte sich zu einem wichtigen Zentrum der Solidarität mit jungen Antiimperialisten aus vielen Ländern. Tausende herausragende Kämpfer befreundeter Jugendverbände, darunter nicht wenige Illegale, haben dort ihr theoretisches Wissen und ihre politische Bildung erworben. Etliche von ihnen stehen im Befreiungskampf ihrer Völker noch immer an vorderster Front.
Die finnische Absolventin des letzten Einjahreslehrgangs Kirsi Marie Liimatainen hat Jahrzehnte später über ihre einstige Bildungsstätte einen Dokumentarfilm gedreht, in dem sie Mit-Studenten darüber befragt, wie sie heute denken und handeln.
Es ist eine Schande, daß das Wilhelm Pieck gewidmete Haus unter den neuen Machthabern mehr und mehr zu einer Ruine verkommt.
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