Dossier von Jo Cottenier in „Solidaire“, Brüssel
Wohin geht China?
Das Mitglied des Politbüros der Partei der Arbeit Belgiens (PTB) Jo Cottenier – er zählt zu den theoretischen Köpfen der Kommunisten seines Landes – veröffentlichte am 28. November 2013 in der Wochenzeitung „Solidaire“ ein den Ergebnissen des 3. Plenums des ZK der KP Chinas gewidmetes doppelseitiges Dossier unter der Schlagzeile: Wohin geht China?
Wir fassen die Meinungsäußerung dieses namhaften marxistischen Denkers und erfahrenen Parteiführers im folgenden zusammen, ohne deren inhaltliche Aussagen zu verändern.
Genau ein Jahr nach dem 18. Parteitag, der eine neue Führung der KP formiert und Staatspräsident Xi Jinping berufen habe, seien vom 3. Plenum des ZK der KP Chinas tiefgreifende Reformen beschlossen worden, schreibt Cottenier einleitend. Den Dokumenten des Parteitags sei zu entnehmen gewesen, daß die Position der Kommunistischen Partei und die zentrale Rolle der Staatsunternehmen in strategischen Bereichen der Wirtschaft unverändert beibehalten würden.
Die großbürgerlichen Medien und jene Beobachter, welche den chinesischen Sozialismus so bald wie möglich verschwinden sehen möchten, seien dadurch enttäuscht worden. Sie wären nicht damit zufrieden, daß China lediglich den Weg zum Kapitalismus eingeschlagen habe und die KP Chinas einen an Gorbatschow erinnernden Weg gehe. Dennoch seien die Dinge erst im Begriff, sich zu entwickeln.
Jo Cottenier verweist darauf, daß ein 3. Plenum nicht zum ersten Mal in der Geschichte der KP Chinas einen wichtigen strategischen Schwenk vorgenommen habe. Die erste große Wende – sie betraf die Landwirtschaft – sei vom 3. Plenum des 11. ZK (es war vom 11. Parteitag der KP Chinas gewählt worden und erhielt deshalb diese Numerierung) im Jahre 1978 vollzogen worden. Dieses Plenum habe am Beginn einer langsamen Liberalisierung in der Wirtschaft gestanden. Der von ihm eingeleitete Prozeß führte zur Herausbildung eines freien Marktes, auf dem die staatlichen Unternehmen mit buchstäblich über Nacht aus dem Boden schießenden privaten Betrieben konkurrieren mußten. Im Laufe der Jahre vergrößerte sich dann dieser Markt ständig und verdrängte allmählich die bestimmende Rolle der Planwirtschaft.
1993 habe dann das 3. Plenum des 14. ZK stattgefunden, schreibt Cottenier. Es beschloß, die Planwirtschaft vollständig durch eine umfassende Marktwirtschaft zu ersetzen. Der Markt bildete fortan die Basis der ökonomischen Regulierung: Nichtrentable Unternehmen wurden kurzerhand mit den entsprechenden Konsequenzen für die Beschäftigten dichtgemacht. Der Staat konzentrierte sich nun auf die ihm verbliebenen 500 bis 1000 großen Komplexe in den wichtigsten Bereichen. Zur gleichen Zeit wurde den Privatfirmen freie Bahn eingeräumt. Oder, genauer gesagt, fast. Denn eine Reihe von Barrieren blieb bestehen – darunter das Staatsmonopol im Finanzsektor, im Energiebereich, in der Telekommunikation und in der Raumforschung.
Um 2001 in die Welthandelsorganisation (WTO) aufgenommen zu werden, mußte China die Existenz „eines wirklich freien Marktes“ nachweisen. Dennoch hörten die Denunziationen in der unmittelbar folgenden Zeit nicht auf, der Staat unterstütze weiterhin indirekt die in öffentlichem Eigentum stehenden großen Unternehmen. Ihnen würden von den ebenfalls staatlichen Banken bevorzugt Kredite zu günstigen Zinsbedingungen eingeräumt, während die Privatbetriebe bei ebenfalls existenten nichtoffiziellen Schattenbanken zu ungünstigeren Konditionen um Mittel nachsuchen müßten. Überdies besäßen die Staatsunternehmen das Privileg der Vereinbarung von Joint-ventures mit ausländischen Firmen.
Im Laufe der Monate sei man in den chinesischen Medien solchen Argumenten gegenüber immer aufgeschlossener gewesen, was dazu geführt habe, daß die Privatunternehmen der Wirtschaft ihren Stempel ständig wirksamer aufgedrückt hätten.
Das 3. Plenum des 18. ZK verkündete nun, daß der Markt fortan anstelle des bisher in diesem Zusammenhang verwendeten Begriffs fundamental die entscheidende Rolle spielen werde. In China besitze ein solcher Austausch von Vokabeln eine radikale Bedeutung, bemerkt Jo Cottenier. Für Präsident Xi Jinping bedeute er eine neue theoretische Konzeption der Rolle des Marktes. „China muß das Grundgesetz der Marktwirtschaft respektieren und sich mit den Problemen befassen, die ein unterentwickeltes Marktsystem, die übertriebene Einmischung des Staates und die ungenügende Kontrolle des Marktes aufwerfen“, gab er vor.
Worin bestehen die Reformen konkret?
In erster Linie zieht sich der Staat zurück und trifft eine Wahl der Investitionen und der Aufteilung des Kapitals. Diese würden nicht mehr wie bisher staatlicherseits kontrolliert, sondern der „unsichtbaren Hand des Marktes“ überlassen. Der Staat gestatte mittels des freien Marktes „ehrlicher als zuvor“ die Konkurrenz zwischen Unternehmen in öffentlicher und privater Hand.
Man rechne damit, daß „der Markt“ die Problematik der gegenwärtig vorhandenen Überkapazitäten bei der Erzeugung von Stahl, Aluminium, Zement und im Schiffbau „zu lösen“ vermöge, berichtet Cottenier. Die Konkurrenz werde diese zum Verschwinden bringen.
Die Bauern, die bisher keine privaten Bodenparzellen besitzen, sollen künftig die von ihnen genutzten Flächen erwerben und verkaufen können.
Eine wichtige Reform betrifft die Dienstleistungen insgesamt und den Finanzsektor im besonderen. Auf diesen Gebieten „öffnet sich“ China uneingeschränkt ausländischen Investitionen. Das gelte sowohl für den Finanzbereich als auch für den Bildungssektor, die Kultur und das Gesundheitswesen. Es handele sich also um eine einschneidende Entwicklung auf diesen Gebieten. Dem Auslandskapital werde die Gründung kleiner und mittlerer Privatbanken gestattet. Das bisherige Staatsmonopol werde aufgehoben, was den Privatunternehmen, die sich ab sofort vom Druck staatlicher Kreditinstitute befreit sähen, neue Möglichkeiten eröffne.
„Das aber ist erst der Anfang“, schreibt Cottenier. In Shanghai solle ein „Pilotprojekt“ erprobt werden, welches später landesweit Schule machen könnte: Eine 29 Quadratkilometer große Zone mit freier Konvertierbarkeit der chinesischen Währung und beliebigen Investitionsmöglichkeiten für ausländische Firmen, Banken und Versicherungen werde eingerichtet. Damit wolle Shanghai der Rolle Hongkongs auf diesem Gebiet noch schärfer Konkurrenz machen. Bisher besonders geschützte Bereiche wie Wasserversorgung, Öl, Gas, Elektrizität, Eisenbahnen und Telekommunikation würden schrittweise dem Markt und damit der „Konkurrenz“ geöffnet. Man erhoffe sich davon ein ökonomisches Wachstum sowie höhere Produktivität und Effizienz.
Innovation und wachsende Kaufkraft der chinesischen Bevölkerung gelten bei all dem als Lokomotiven weiter anhaltenden wirtschaftlichen Wachstums. Dabei spielen Maßnahmen zur Stimulierung des „nichtöffentlichen Sektors“ eine dominierende Rolle. Aus diesem Grund sollen weitere Stimuli für das Entstehen neuer Privatunternehmen geschaffen werden.
All das wird in China als „dritte große Reform“ auf dem seit 1978 und 1992 beschrittenen Weg bezeichnet – ein Paket von Maßnahmen, die den Sozialismus voranbringen sollen. Tatsächlich handele es sich um eine Ökonomie, die sich im Kern von der kapitalistischen kaum noch unterscheidet, allerdings bei Aufrechterhaltung einer sozialistischen Staatsstruktur und der Führung durch eine kommunistische Partei, die 82 Millionen nominelle Mitglieder ausweisen kann. Nach dem 3. Plenum des 18. ZK (es besteht aus 204 Mitgliedern und 169 Kandidaten) darf man wohl die Frage stellen, wie lange der Anspruch noch realistisch ist, sich auf einem sozialistischen Weg zu befinden. China weiche immer stärker vom klassischen Konzept des Sozialismus ab. Die Fünfjahrpläne hätten nichts mehr mit einer Planwirtschaft gemein, sondern stellten lediglich eine „Orientierung in großen Zügen“ dar. Das Paradoxum aber bestehe darin, daß man – um den „Plan“ verwirklichen zu können – immer stärker auf das Wachstum des Marktes setze.
Jo Cottenier fährt fort: Die Kommunisten des fernöstlichen Riesenlandes sprächen von einem „Sozialismus chinesischer Prägung“. Um diesen zu definieren, bedienten sie sich seit Jahrzehnten des Arguments, China befände sich erst in der „Anfangsphase der Herausbildung einer sozialistischen Gesellschaft“. Das aber erfordere eine wirtschaftliche Liberalisierung, wobei man früher oder später die Handbremse ziehen werde. Doch die in den vergangenen zehn Jahren getroffenen Entscheidungen deuten darauf hin, daß das Streben nach Wachstum um jeden Preis die einzige Grundlage sei, während die sozialistische Ideologie mehr und mehr im Hintergrund verschwinde. Und je schneller man diesen Weg weiterverfolge, um so schwieriger werde es, diesen Kurs eines Tages ändern zu wollen.
Eine andere markante Entscheidung des 3. Plenums besteht in der Schaffung einer Sicherheitskommission unter der direkten Führung von Xi Jinping, die für alle diesbezüglichen inneren und äußeren Probleme zuständig ist. Bekanntermaßen sucht die US-Regierung um jeden Preis ihre Vorherrschaft in der Welt aufrechtzuerhalten, wobei sie das Gewicht Chinas voll in Betracht zieht. Das überaus schnelle ökonomische Wachstum und der Vorstoß auf den zweiten Rang in der Weltwirtschaft haben US-Präsident Obama bekanntlich dazu veranlaßt, die süd- und ostasiatische Region offiziell zur wichtigsten Interessenzone der Vereinigten Staaten zu erklären. Die imperialistische Militärstrategie wurde entsprechend modifiziert und die globale Truppenverteilung geändert. Die Anwesenheit einer Flotte der U.S. Navy im Südchinesischen Meer sowie die Forcierung der militärischen Zusammenarbeit mit Japan und den Philippinen zeugen davon, daß es das Pentagon ernst meint.
Es gibt bereits aktuelle und potentielle Konfliktherde in der Region: den Status Taiwans, das ein unteilbarer Bestandteil Chinas ist; den sich zuspitzenden Streit um von Japan wie China gleichermaßen beanspruchte Inseln; Tibet.
Die Entscheidung des 3. Planums, eine Sicherheitskommission ins Leben zu rufen, ist ein Indiz dafür, daß die chinesische Führung auf diese Herausforderungen reagiert und die zunehmenden Spannungen in Rechnung stellt.
Nach „Solidaire“, Brüssel, 28. November 2013 / Übersetzung: K. S.
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