Wohnvergnügen im „Szeneviertel“
Da mich mein Weg im Frühjahr 2013 beruflich nach Berlin führte, habe ich mir dort eine Wohnung suchen müssen. Alles, was meinem Freundeskreis hierbei bereits widerfahren war, sollte auch ich über mich ergehen lassen: Massenbesichtigungen im Pulk von 50 Mitbewerbern oder Inaugenscheinnahme eher schäbiger Löcher. Hinzu kamen jene privaten Vermieter, welche Bewerbungsunterlagen, möglichst mit Porträtfoto, verlangten und obendrein noch einen mehr oder weniger klugen Text, aus dem hervorgehen sollte, daß man das ihnen angebotene Quartier für geradezu ideal halte. Die kommunalen Anbieter schienen vom Ansturm der Wohnungsuchenden total überfordert.
Endlich – nach fünf Monaten Suche – konnte ich eine sanierte Altbauwohnung im früheren Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg, der nach erheblichen sozialen Umgruppierungen immer mehr zu einem „Szeneviertel“ wurde, beziehen. Die Modernisierung meines neuen Heimes beschränkt sich auf Küche und Bad. Im großen Flur gibt es keine Steckdose. Die Wohnungstür schließt auch nach zwei Reparaturanläufen noch immer nicht richtig. Der einstmals imposante Deckenstuck im Wohnzimmer wurde mit weißer Farbe übertüncht. Die in Aussicht gestellte Klingel- und Gegensprechanlage fehlt weiterhin, so daß es altbewährter Klopfzeichen bedarf. Der Hausverteilerkasten für die Telekommunikation hängt in einer Plastiktüte unter freiem Himmel im Hinterhof.
Mein 42 Quadratmeter großes „Wohnvergnügen“ kostet im Monat 595 Euro Warmmiete. Bei all dem ist mir eines klargeworden. Wohnraum wird inzwischen so billig wie möglich saniert oder modernisiert, um aus ihm höchstmöglichen Profit zu schlagen.
Hier drängt sich ein Vergleich zur 1990 durch die BRD vereinnahmten DDR auf. Unter sozialistischen Bedingungen waren Miethäuser meist Volkseigentum oder gehörten Genossenschaften. Kaum jemand konnte sich daran bereichern.
Um der Platitüde „Die Kommunisten haben ja alles verfallen lassen!“ gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen, sei eingestanden: Bei der Sanierung unserer Altbausubstanz gab es enorme Defizite. Das war Bauminister Wolfgang Junker durchaus bekannt. Doch so sehr er sich auch um Abhilfe bemühte, sein Drängen auf Modernisierung unansehnlicher alter Gebäude stieß beim SED-Politbüro auf taube Ohren. Das konzentrierte sich auf die drei Millionen Einheiten des von ihm nicht ganz grundlos favorisierten Wohnungsneubauprogramms. Es sollte 1990 abgeschlossen sein. Ob es danach einen Schwerpunkt „Modernisierung von Altbauten“ geben sollte, entzieht sich meiner Kenntnis.
Für die Renovierung der Altbaugebiete hätten die DDR-Bürger zweifellos in die Tasche greifen müssen. Ohne eine angemessene Mieterhöhung wäre es nicht gegangen. Bekanntlich sind heutige BRD-Bürger ja auch dazu bereit, mehr als ein Drittel ihres Nettoeinkommens für die Miete hinzulegen. Doch es gab einen wesentlichen Unterschied: Während es in der DDR bei Mieterhöhungen mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Revolte gekommen wäre, wird die gnadenlose BRD-Mietpolitik stillschweigend hingenommen. Daraus ergibt sich wohl, daß die Angepaßtheit der Menschen im kapitalistischen Deutschland sehr viel ausgeprägter ist, als sie es jemals im Sozialismus war.
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