RotFuchs 225 – Oktober 2016

„Wolfsmenschen“ am Hauptbahnhof

Edda Winkel

Seit vor Jahren erstmals von Wolfsspuren in deutschen Wäldern die Rede war, hoffe ich auf seine Rückkehr.

Es war zum zweiten Mal Frühling, als Akela, die Wölfin, spürte, daß die Zeit gekommen war, das Rudel zu verlassen. Im vergangenen Jahr hatte sie der Mutter bei der Aufzucht der Jungen geholfen. Wenn jetzt eine neue Geburt bevorstand, würde in wenigen Wochen das Revier zu klein, der Bau zu eng werden. Nachts machte sie sich davon. Ein langer gefährlicher Weg stand ihr bevor. Sie interessierte sich nicht für die Menschen, ging ihnen aus dem Weg, wollte nur Nahrung, Raum und Frieden. Sie wußte nichts vom bösen Wolf als Kinderschreck, hatte aber unangenehme Bekanntschaft mit einem zwickenden Zaun am Schafpferch gemacht und nutzte Wildbrücken zum Überqueren der großen Straßen, die mitten durchs Wolfsrevier führten.

„Wolfsmenschen“ in Potsdam

„Wolfsmenschen“ in Potsdam

Als sie an die tausend Kilometer gewandert war, hörte sie aus der Ferne Taruk, den Wolf. Sie antwortete und traf mit ihm auf dem alten Truppenübungsplatz im Südbrandenburgischen zusammen. Wird es ein neues Rudel geben? Ein paar Monate sind vergangen. Vor einigen Tagen wurden frische Spuren auf einer Brache gesichtet, Spuren von Wölfen.

Ich verstecke mich am Waldrand. Nein, Angst habe ich nicht, ein lauter Ruf, ein Händeklatschen würden den Wolf verscheuchen, ich warte. Da erscheinen fünf tapsige Welpen, spielen, raufen, üben ungeschickt den Mäusesprung. Akela, die Mutter, sehe ich nicht. Das kleinste der Jungen hebt den Kopf, schaut neugierig in Richtung Kamera. Der breite Kopf, die kleinen dreieckigen Ohren, der helle Schein um die Schnauze, die ausdrucksstarke Mimik, kein Zweifel, ein Wolf sieht mich an. Ein brechender Ast, ein Lockruf, ab geht es im Wolfstrab! Ich wünsche dir Glück, kleiner Bruder!

Zwei Jahre sind vergangen, da erzählen mir meine Kinder aufgeregt von 66 riesigen Wolfsmenschen, sprungbereit, mit fletschenden Zähnen, ausgefahrenen Krallen, bedrohlich angespannten Muskeln, angriffsbereit. „Was soll das? Sind es Wolfshasser, die gegen die sich gerade wieder ansiedelnden Wölfe vorgehen wollen?“, sorge ich mich. Ich will selbst sehen, was dort auf dem Alten Markt in Potsdam und dann auf dem Berliner Wa-shingtonplatz am Hauptbahnhof gezeigt wird. Wahrlich, eine seltsame Kunstausstellung! Sie stehen da in weitem Rund, gefährlich drohend, Blick Richtung Kanzleramt. Das riesige Wolfsrudel steht symbolisch für Hasser, Brandsatz-Werfer, Neo-Nazis, wütende Pegidisten und AfDler, die auf Flüchtlinge schießen wollen – Schöpfungen des Künstlers Rainer Opolka. Sie sollen ein Zeichen setzen gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Haß und Gewalt. Sie tragen Namen wie Mitläufer, Blinder Hasser, NSU-Mann, Kraftprotz, Anführer, Blind Soldier. Texte fordern zur Diskussion über Rassismus und Gewalt auf. Leere Tafeln animieren den Besucher, aufzuschreiben, was man tun kann, damit keiner mehr hassen muß. „Nicht schweigen, nicht wegsehen!“, schreibe ich.

Laut schimpfend kommt eilig ein gutgekleideter Mann mit Aktentasche über den Platz, scheint seiner Arbeit zuzustreben: „Das soll schön sein? Kunst? Eine Unverschämtheit ist das! Das kann doch wohl nicht wahr sein! Verbieten muß man so was!“ Ich fasse mir ein Herz und rufe ihm nach: „Sie haben sich wohl wiedererkannt!“

Im ausgelegten Informationsheft erschüttert mich der Bericht des Arztes Raphaele Lindemann, zuständig für die medizinische Erstversorgung neu ankommender Flüchtlinge in Deutschland:

„Ich sehe pro Schicht etwa 300 bis 500 Flüchtlinge. Mindestens 40 % davon sind Kinder. Es gibt Familien, es gibt Alte und ja – es gibt auch junge Männer. Warum auch nicht? Allen gemein ist, daß sie absolut entkräftet und fertig sind. Ich habe bisher nie so viel Elend und Verzweiflung auf einem Haufen gesehen. Neulich haben wir zum Beispiel eine Frau versorgt, deren Beine komplett verbrannt waren. Keine Ahnung, wie sie es überhaupt bis zu uns geschafft hat. Wir haben allein eine halbe Stunde gebraucht, um die festgeklebten, schmutzigen und stinkenden Verbände von den vereiterten Wunden zu lösen. Da war aber kein Klagen und keine Anspruchshaltung … Übrigens haben Flüchtlinge auch ihre Smartphones dabei. Vielen ist es zunächst wichtiger, ihre Handys aufzuladen, als etwas zu Essen zu bekommen. Warum? Damit sie ein Lebenszeichen an die Lieben zu Hause schicken können, was ihnen aber oft genug zum Vorwurf gemacht wird und Beleg dafür sein soll, daß sie ja gar nicht so hilfebedürftig seien.

Das Wolfsrudel rüttelt auf. Wenn die Formen der Ordnung und des Zusammenhalts zerbrechen und Fremdenfeindlichkeit sich ausbreitet, moralisch-ethische Regeln ihre Gültigkeit verlieren und die Gesellschaft zunehmend von Angst, Gewalt und Verrohung geprägt wird, wird dann der Mensch des Menschen Wolf?

Nein, das entwürdigt den Wolf. Der Mensch wird des Menschen Un-Mensch!