Wolgograd – Heldenstadt, Festivalstadt (1977)
Wolgograd. IV. Festival der Freundschaft zwischen der Jugend der DDR und der UdSSR. Nach den Festen in Dresden, Leningrad und Halle treffen sich die Komsomolzen und FDJler in der Stadt, die zu den kühnsten und tapfersten auf der Welt zählt. Hier wurde in den Jahren 1942/43 das Schicksal der Völker mitentschieden. Hier versetzte das Sowjetvolk dem Hitlerfaschismus einen vernichtenden Schlag, von dem er sich nicht mehr erholen konnte.
In das völlig zerstörte Stalingrad führte 1947 auch der Weg einer FDJ-Delegation unter Leitung Erich Honeckers während der ersten Reise einer deutschen Jugenddelegation ins Ausland nach Beendigung des faschistischen Raubkrieges. Genau dreißig Jahre nach dem „Friedensflug nach Osten“, wie diese Mission genannt wurde, trifft sich die Jugend der beiden Staaten in der Heldenstadt an der Wolga.
Das IV. Freundschaftsfestival im 60. Jahr der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, jenem Ereignis im Jahre 1917, mit dem – wie der Dichter Erich Weinert formulierte – „Kapitel zwei der Weltgeschichte“ begann. Dieses Jubiläum drückt dem Jugendtreffen deutlich seinen Stempel auf. Wolgograd gibt den 1000 Jungen und Mädchen aus der DDR ausreichend Gelegenheit, sich über die ruhmreiche Geschichte der Stadt zu informieren, die Leistungen und die Gastfreundschaft ihrer Bürger kennenzulernen. Ein neues Kapitel der Freundschaft zwischen den Völkern der Sowjetunion und der DDR, zwischen dem Leninschen Komsomol und der Freien Deutschen Jugend – in Wolgograd, das früher Stalingrad hieß …
Sicher hat Wolodja schon viele Gäste auf den Mamai-Hügel begleitet. Wer in Wolgograd ist, der geht auf den Kurgan, auf den Hügel. Nicht schlechthin als Tourist, der vielleicht aus reinem Spaß an der Sache die Stufen der breiten Treppen hinauf zum Memorial zählt. Unweigerlich denkt der Besucher daran, selbst an dieser historischen Stätte zu sein, über die in unseren Geschichtsbüchern zu lesen ist, daß hier die Wende des zweiten Weltkrieges vollzogen wurde. Von der der sowjetische Schriftsteller Michail Scholochow sagt, daß hier der einfache Soldat ein Denkmal für nachfolgende Generationen gesetzt hat. Und von der aus ein amerikanischer Major beim Anblick Stalingrads meinte, man solle doch dieses Trümmerfeld als der Welt größtes Museum erhalten. Nun ist Wolodja Limanski genausowenig Museumsführer, wie die Stadt eine Trümmerwüste geblieben ist. Er ist Dolmetscher, hat gerade diesen Beruf gewählt, weil es ihm Spaß macht, Leute kennenzulernen, die in seine Stadt kommen. Ihnen das Neue zu zeigen, sie auch zum Nachdenken über Vergangenes anzuregen. Und gerade deshalb ist der Komsomolze Wolodja oft auf dem Mamai. Von der Steppe her fegt ein scharfer Wind über den Hügel. Oben, am Fuße der neunzig Meter hohen „Mutter Heimat“ mit dem erhobenen Schwert mußten wir schützend unsere Mantelkragen hochschlagen. Die Stadt lag vor uns, wie auf einer Handfläche ausgebreitet. Sie schmiegt sich kilometerlang eng an die Wolga. Doch nichts vom Lärm der Großstadt drang bis hier hinauf in diese fast bedrückende Stille. Viele waren zu dieser Stunde unterwegs. Jung und alt. Die einen ziellos, wie einige Studenten aus Taschkent, die Wolodja um eine Auskunft baten, oder die Reisegruppe aus Frankreich. Andere wiederum mit bestimmtem Schritt. Eine alte Frau fiel uns auf. Im marmornen Saal legte sie an der Ewigen Flamme den bescheidenen Blumenstrauß nieder; verweilte nachdenklich einen Moment und ging dann wieder hinaus, ohne die Menschen um sich herum zu beachten. Vielleicht galten gerade diese Blumen einem der Tausenden gefallenen Kämpfer der Schlacht, deren Namen hier in den Stein gemeißelt sind. Wir begegneten einem Invaliden, der auf einer Bank ein bißchen verschnaufte, bedächtig an seiner „Papirossa“ zog und die Vorübergehenden musterte. Unter seinem aufgeschlagenen Mantel sahen wir sorgfältig angelegte Orden. Welches Ziel hatte er wohl auf dem Hügel?
Unten am Lenin-Prospekt empfing uns wieder der Krach der Hauptstraße. Im Hotelrestaurant bestellten wir Wodka zum Aufwärmen und Mineralwasser aus Grusinien. Was mich zur Frage veranlaßte, warum einfaches Mineralwasser ausgerechnet aus dem fernen Grusinien an die Wolga käme. Und Wolodja fragte zurück, ob wir denn immer nur Berliner Bier in Berlin zu kaufen bekämen. Dann sprachen wir wieder über den Kurgan. Nicht mit der Unbeschwertheit, mit der man über grusinisches Wasser oder Berliner Bier redet. Dazu war das Erlebnis, dagewesen zu sein, viel zu ernst. Auch für einen jungen Menschen, der das Wolgograd von heute sieht, das Stalingrad von gestern nur an Hand von Erzählungen, Büchern und Filmen nachvollziehen kann. Fünfunddreißig Jahre sind eine lange Zeit. Hat man da nicht schon einen zu großen Abstand zu diesen 200 Tagen und Nächten der Kämpfe um diese Stadt und des Krieges überhaupt? Über 40 000 Ruinen hinterließen die Faschisten. Heute ist Wolgograd eine Stadt mit modernen Wohnvierteln. Ganze siebenhundert registrierte Einwohner hatte es hier Anfang 1943 gegeben; nicht mehr lange, und Wolgograd gehört zu den Millionenstädten der Sowjetunion. Was empfindet heute der Junge gegenüber dem Älteren, der selbst im Schützengraben lag? Vor allem wohl ist es die Hochachtung vor den Taten des Vaters oder Großvaters, vor den Soldaten der Roten Armee.
Wolodja erzählte mir von einem Kriegsveteranen, der ihm einmal folgendes gesagt hatte: „Es war eine furchtbare Zeit. Viele opferten die besten Jahre ihrer Jugend, viele sogar starben, ohne sie je erlebt zu haben. Doch vergöttern soll uns deshalb keiner. Mut und Treue zur Heimat werden zu jeder Zeit verlangt. Und deshalb ziehen wir Alten vor euch Jungen heute den Hut. Eure Leistungen sehen wir im neuen Traktorenwerk, in den Instituten unserer Stadt und auf den vielen Baustellen …“ Tage später erst sagte mir Wolodja, daß jener Veteran des Krieges Georgi Denissowitsch Limanski sei, sein Vater. Er habe das Traktorenwerk in den dreißiger Jahren mit aufgebaut und es zehn Jahre später gegen die Faschisten mit verteidigt.
Aus „Jugend“ 6/1977
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