Zu Rußlands ökonomischer
und sozialer Verfaßtheit
Den Hinweisen und Schlußfolgerungen Klaus Steinigers in seinem Leitartikel „Zur Mär vom russischen Imperialismus“ stimme ich uneingeschränkt zu. Aufgrund eigener jüngster Erlebnisse möchte ich folgende Hinweise zu den aktuellen Verhältnissen in den Nachfolgestaaten der durch Jelzin eigenmächtig aufgelösten Sowjetunion geben.
Unlängst besuchten meine Frau und ich zwei Wochen Sankt Petersburg und das Leningrader Gebiet – die Region um die Metropole an der Newa. Vor gut einem Jahr konnten wir uns in Armenien etwas eingehender umsehen, um die dortigen Verhältnisse in Augenschein zu nehmen und die Unterschiede zur Zeit vor 25 Jahren zu konstatieren.
Grundsätzlich muß man sagen, daß die Oligarchenherrschaft beide Länder wirtschaftspolitisch in einen äußerst bedenklichen, ja brisanten Zustand versetzt hat. Sehr viele Produktionsbetriebe – in Armenien alle, in Nordwestrußland einschließlich der Millionenstadt Sankt Petersburg eine große Zahl – wurden von den neuen „Herren“ nach Verhökerung des Inventars einfach dichtgemacht. Heute findet man dort immer mehr verfallende Industrieruinen und -brachen. In Armenien und in abgeschwächter Form auch in Rußland haben Millionen Menschen so ihre Arbeitsplätze und Einkommensmöglichkeiten verloren. In Armenien vollzieht sich ein massenhafter Exodus ins westliche Ausland, der insbesondere die Jugend des Landes erfaßt hat.
Durch diese katastrophalen Verhältnisse in der Wirtschaft geht das produktive Wissen und Können aus sowjetischen Zeiten mehr und mehr verloren. Es findet keine Weitergabe an junge Nachwuchsfachleute mehr statt. Beide von uns besuchten Länder sind inzwischen ganz überwiegend zu bloßen Rohstofflieferanten für ausländische Firmen geworden, woran nur die Gaunerschicht der Oligarchen profitiert. Aber auch bei der geologischen Erkundung einheimischer Rohstoffe hat sich der Staat aus Kostengründen zurückgezogen. In Rußland wie Armenien gibt es kein Ministerium für Geologie und keine staatliche Rohstoffprospektion mehr. Der Russischen Föderation mangelt es übrigens auch an einigen strategischen Rohstoffen.
Aus unserer Sicht dürften sich diese destruktiven Prozesse in der Wirtschaft mittelfristig auf die Verteidigungsfähigkeit vor allem Rußlands auswirken, weil moderne Waffensysteme ein hohes wissenschaftlich-technisches Niveau zur Voraussetzung haben. Auch das für die Entwicklung der russischen Gesellschaft zu erwartende Szenarium ist düster, denn es findet im Lande keine harmonische soziale Entwicklung mehr statt. Das zeigt sich u. a. im enormen Wachstum weniger Riesenstädte mit zunehmenden Problemen einerseits und der Verödung vieler Landstriche andererseits.
Aus unserer Sicht könnte für die russische Gesellschaft nur eine wirkliche Wiedergesundung erreicht werden, wenn demokratische Kräfte die Macht im Lande erringen und der Gesellschaft eine neue Perspektive auf der Grundlage zuverlässig verwalteten Volkseigentum geben würden. Bislang aber sind jene, welche das Riesenland auf den Weg einer solcher Entwicklung voranbringen und führen könnten, in ihrem politischen Einfluß auf die Gesellschaft insgesamt noch zu schwach. Es gelang der russischen Führung unter Putin zwar, den gierigen Zugriff ausländischer Mächte und Magnaten zunächst einmal abzuwehren, doch schon sind die Appelle oligarchenhöriger Kräfte wieder zu vernehmen, Rußland müsse sich für mehr Investitionen aus dem westlichen Ausland öffnen, um seine Finanzengpässe zu verringern. Hinzu kommen unablässige militärstrategische Drohungen aus dem Pentagon und dem NATO-Hauptquartier.
Unter den geschilderten Bedingungen scheint mir die weitere Entwicklung der russischen Gesellschaft noch völlig offen zu sein.
Nachricht 958 von 2043
- « Anfang
- Zurück
- ...
- Der Westen verspielt den Frieden in Europa
- In Moskau fehlten am 9. Mai die Richtigen
- Europas Schuldenkrise
ist nicht vom Himmel gefallen - Zu Rußlands ökonomischer
und sozialer Verfaßtheit - Schwerter statt Pflugscharen
- Martin Luther war kein Pazifist
- „Transformation“ oder Systemwechsel?
- ...
- Vorwärts
- Ende »