Fällt Großbritanniens Zweiparteiensystem ins Wasser der Themse?
Zum Aufstieg der Rechtsaußenpartei UKIP
Großbritanniens politisches Spektrum war bisher durch den von Zeit zu Zeit erfolgenden Wechsel zwischen der eher rechtssozialdemokratischen Labour Party und den konservativen Tories charakterisiert. Hatten die einen ihr Pulver verschossen und den erforderlichen Massenappeal verloren, dann standen die anderen parat, sofort an ihre Stelle zu treten. Dieser Rollentausch, von dem niemals die Gefahr eines Macht- und Systemwechsels drohte, funktionierte in Westminsters parlamentarischem Spiel ebenso zuverlässig wie das politische Wechselbad zwischen Demokraten und Republikanern in den USA oder die Wachablösung in der BRD. Dort pflegen SPD und CDU/CSU nicht nur einander vom Staatsruder zu verdrängen, sondern – im Unterschied zu Großbritannien und den USA – auch miteinander ins Koalitionsbett zu steigen.
Nun ist im Vereinigten Königreich etwas in seiner Plötzlichkeit so nicht Erwartetes eingetreten.
Das Wechselspiel zwischen Tories und Labour hat – zumindest vorerst – wohl sein Ende gefunden. Zwar sitzen beide Parteien weiterhin mit unterschiedlich starken Fraktionen im Parlament. Doch ihre traute Zweisamkeit bei der Wahrung der Interessen des britischen Kapitals ist durch das Erscheinen einer dritten, als „prononciert europafeindlich“ eingestuften rechten Kraft heftig aufgemischt worden. Die neue Konstellation gräbt vor allem den Konservativen das Wasser ab. Die UKIP, wie die ihren englischen Nationalismus betonende United Kingdom Independence Party abgekürzt heißt, konnte sich nach ihrem verblüffenden Triumph bei den Wahlen zum Europaparlament im Mai 2014 als echte Konkurrenz der Tories auf der Londoner politischen Bühne etablieren. Noch rückwärtsgewandter als diese, steht die UKIP schon jetzt als potentieller Koalitionspartner der Konservativen nach den am 7. Mai stattfindenden Unterhauswahlen zur Debatte. Sie könnte Camerons Partei zum Austritt aus der EU zwingen, wenn das Votum der 46 Millionen britischen Stimmberechtigten ähnlich wie bei den Europawahlen ausfallen sollte.
Zum ersten Mal seit dem Wegbrechen der weiter rechts als Labour stehenden Social Democratic Party (SDP) von der „Mutterpartei“ – es ereignete sich 1981 und fand 1989 ein jähes Ende – hat es die UKIP des Europa-Abgeordneten Nigel Farage geschafft, eine dritte Kraft in Großbritannien zu etablieren. Der prinzipielle Unterschied zur seinerzeitigen SDP-Affäre besteht allerdings darin, daß diese dann von der Liberal Party David Steels übernommene und als Liberal Democrats weitergeführte Gruppierung fast ausschließlich zur Schwächung von Labour führte, während die UKIP mitten ins Herz der einstigen Thatcher-Partei trifft.
Als der jetzige Premierminister David Cameron 2005 die Führung der Tories übernahm, war die UKIP noch ein weit rechts stehender kleiner Verein unbedarfter junger Bourgeois. Die konservative Spitze behandelte sie als „Clowns“.
Doch das ist längst Geschichte. 1993 entstanden, verfügte die UKIP im letzten Herbst über 48 000 eingeschriebene Mitglieder.
Eine Meinungsumfrage der „Mail on Sunday“ ergab am 10. Oktober 2014, daß zu jenem Zeitpunkt etwa ein Viertel der britischen Wähler mit dem Gedanken spielte, im Mai für die UKIP zu votieren. Das würde der neuen Rechtsaußenpartei etwa 70 Sitze in Westminster einbringen.
Unterdessen sind nicht nur Millionen Wähler, sondern auch einige Mandatsträger der Tories zur UKIP übergelaufen – ein ähnlicher Vorgang, wie ihn FDP und CDU mit der AfD des Herrn Henkel erlebt haben.
Boris Johnson, Londons stockkonservativer Bürgermeister und zugleich Unterhaus-Kandidat, tendiert offen zur neuen Rechtspartei. Es ist so gut wie sicher, daß UKIP-Leader Nigel Farage neben seinem seit 1999 gehaltenen Sitz in Strasbourg zugleich auch das Parlamentsmandat von South Tenet (Kent) erobern dürfte. Selbst in der Arbeiterhochburg Manchester gelten Erfolge von UKIP-Bewerbern nicht als ausgeschlossen.
War diese Partei noch vor wenigen Jahren für die Tories alles andere als ein Partner, so tanzt deren Elefant inzwischen in den Gemächern der Konservativen, wie es ein Presseorgan formulierte. Für Cameron könnte sich lediglich in Schottland ein Hoffnungsschimmer zeigen. Beim dortigen Unabhängigkeitsreferendum am 18. September hatte sich die Labour Party für ein „No“ stark gemacht. Das dürfte ihr vermutlich auf die Füße fallen. Andererseits ist auch mit deutlichen Verlusten der schottisch-nationalistischen SNP zu rechnen, die den Reigen der für eine Abtrennung von England optierenden „Yes“-Unterstützer angeführt hatte. Die Tories wären in beiden Fällen vermutlich die Gewinner.
Seriöse politische Beobachter gehen davon aus, daß die bisherige Zahl von 40 schottischen Labour-Abgeordneten halbiert werden dürfte. Eine spürbare Reduzierung der Unterhausmandate dieser Partei könnte den Tories in Westminster Entlastung bringen.
Landesweite Umfragen des „Manchester Sunday“ ergaben eine Tory-Führung von 32 %, gefolgt von Labour (30 %) und UKIP (17 %). Auf Liberale und Grüne entfielen jeweils 7 %. Andere Sondierungen sahen indes Labour und Tories mit jeweils 31 % gleichauf und machten für UKIP ein Viertel der Stimmen aus. 326 der 650 Unterhaus-Mandate werden zur Regierungsbildung benötigt.
Falls Labour keinen Sieg erringen sollte, dürfte die Formierung eines Kabinetts aus Tories und UKIP wohl mehr als eine Möglichkeit sein.
RF, gestützt auf „The Socialist Correspondent“, Glasgow
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