Als sich das Osmanische Reich mit Blut besudelte
Zum Völkermord an den Armeniern
Über das tragische Schicksal der christlich-armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich (bis zu seiner Auflösung, 1922, anschließend Republik Türkei) wurde anläßlich der 100jährigen Wiederkehr des Gemetzels in der Presse ausführlich berichtet. Die Tatsache, daß es sich bei der Vertreibung und dem Mord an den Armeniern zugleich um die größte Christenverfolgung der Weltgeschichte handelte, die sich auch nach dem Ende des 1. Weltkrieges fortsetzte (Vertreibung der Assyrer und Griechen im Rahmen der „Türkisierung“), wurde nur am Rande erwähnt. Noch knapper schrieb die Konzernpresse über das „Wegsehen“ des kaiserlich-deutschen Verbündeten angesichts der offensichtlichen Untaten und die Beihilfe seiner Militärmission im Land am Bosporus bei der „kriegsbedingten Umsiedlung“ der Armenier. So heißt es noch immer in der offiziellen türkischen Staatsversion.
Doch welcher halbwegs aufgeklärte BRD-Bürger mußte nicht den Kopf schütteln ob des rhetorischen Hakenschlagens im Vorfeld der Bundestagsdebatte, als es um den längst überfälligen Begriff „Völkermord“ ging. Frau Merkel vermied das Wort Genozid und saß mit gesenktem Kopf so da, als ob sie schliefe …
In den Jahren 1895/96 waren etwa 300 000 Armenier Massakern im Osmanischen Reich zum Opfer gefallen, während sich die christlichen Staaten Europas in recht ergebnisloser Diplomatie erschöpften. Und selbst diese unterblieb, nachdem es sich unter den nach einer Militärrevolte an die Macht gelangten Jungtürken den von Deutschland angeführten Mittelmächten im Herbst 1914 angeschlossen hatte. Im Inneren betrieb Ankara die Schaffung eines türkischen Nationalstaates ohne jegliche Konzessionen an im Lande lebende Minderheiten. Aber gegen alles, was nicht türkisch war, wurde seit 1914 mit zunehmender Härte eingeschritten. Im Juni 1915 begann der von langer Hand vorbereitete Genozid an den Armeniern. Innenminister Talaat verschickte seine Umsiedlungs- und Ausrottungsbefehle in alle Landesteile.
Einspruch dagegen erhoben, hinhaltenden Widerstand leisteten und tatkräftige Hilfe erwiesen dieser großen Volksgruppe etliche internationale Organisationen und Einzelpersönlichkeiten, die nicht wenigen Armeniern – speziell vielen Waisenkindern – das Leben retteten. Aber „mit eiserner Logik“ verfolgten die Jungtürken Enver und Talaat ihren ideologisch begründeten Amoklauf, dem 1,5 Millionen Armenier zum Opfer fielen.
Wie aber reagierte der Bündnisgenosse Preußen unter Kaiser Wilhelm II., wie Reichskanzler Bethmann-Hollweg, wie das deutsche Außenministerium, denen unablässig detaillierte Berichte zugingen? Noch glaubte man dort an den Sieg an allen Fronten, eine Aufgabe des Bündnisses mit der Türkei stand daher außer Frage. Nicht einmal zu einer geharnischten Demarche konnte sich die Berliner Wilhelmstraße aufraffen. Man rieb sich offiziell nicht an der menschenverachtenden Innenpolitik der Jungtürken, hatte man diesen Staat doch in der Vorbereitung des großen Krieges zum südöstlichen Verbündeten mit Stoßrichtung Rußland langfristig aufgebaut, wobei man von seiner vorteilhaften geopolitischen Lage und den kriegerischen Traditionen dieses früheren Weltreichs ausging. Über diese deutsch-türkische Liaison, die Ursachen des schrecklichen Geschehens einschließlich der Schilderung erschütternder Einzelheiten des unsäglichen Leids der Armenier berichtet Heinrich Vierbücher in seiner Schrift „Armenien 1915“, die im Bremer Donat-Verlag erschienen ist.
Der Autor, SPD-Mitglied, vielseitig begabter Autodidakt, erlernte englisch, französisch, arabisch und türkisch. Bereits nach seiner Rekrutenzeit wurde er 1915 als Dolmetscher beim kaiserlichen Marschall Otto Liman von Sanders in Konstantinopel eingesetzt, der sich erfolgreich gegen die Massendeportationen von Armeniern gewehrt hatte. „Und es war die Erfahrung von Smyrna, die Vierbücher veranlaßte …, die Frage nach der deutschen Mitverantwortung konsequenter als andere vor und nach ihm aufzuwerfen“, schreibt Herausgeber Donat in seinem Nachwort.
Vierbücher, der drei Jahre als Übersetzer in der Türkei tätig war, konnte sich frei im Lande bewegen. Er wurde so ein authentischer Zeitzeuge des dortigen Geschehens.
„Der türkische Soldat war der ärmste Sklave des Militarismus …; beim türkischen Militär war das Denken noch mehr ein Verbrechen als beim deutschen. Nie habe ich bei meinem jahrelangen Aufenthalt in der Türkei einen anderen Eindruck als den der dumpfen Verzweiflung gehabt; von einer Begeisterung, die die Herzen erfaßte, konnten nur deutsche Kriegsberichterstatter schreiben … Der türkische Soldat wurde geschlagen …, seine Familie konnte hungern. In Lumpen gekleidet, zum Teil barfuß, … die Füße mit Stoff-Fetzen umhüllt … Die Ernährung war ein Fraß, da die wertvolleren Nahrungsmittel von den Intendanten und Offizieren gestohlen wurden“, stellte Vierbücher fest.
Und von diesem Verbündeten erhoffte sich der kaiserlich-deutsche Generalstab Großes im Krieg gegen Rußland. Er unterstützte deshalb die Türkei mit Unmengen an Reichsmark und Gold, auch wegen der angestrebten deutschen Vorherrschaft im Orient! Vor allem auch deshalb wurde der Bau der unvollendet gebliebenen Bagdadbahn in Angriff genommen. Der türkische Feldzug gegen Rußland wurde dann zum Desaster: Von 80 000 Mann kamen nur 20 000 zurück.
Weiter charakterisiert der Autor die neuen Machthaber: „Die jungtürkische Herrschaft stand vom ersten Tag an unter dem Zeichen der Diktatur … Es ging nicht um neues Werden, nicht um Emporhebung des Volkes, sondern um die Befriedigung einzelner Menschen, denen das Volk nichts, die Selbstüberschätzung aber alles war. Die Jungtürken waren ebenso unfähig wie die Alttürken …“
Am 21. April 1915 beschloß die türkische Regierung die Ausrottung des armenischen Volkes. Als erstes wurden in Konstantinopel etwa 590 von 600 armenischen Intellektuellen ermordet. „Allgemein wurden die Städte und Dörfer umzingelt und die Männer aufgefordert, ihre Waffen abzugeben … Wer im Besitz von Waffen war, erlitt auf der Stelle den Tod durch Erschießen … Die Männer wurden … oft schon in der Nähe des Ortes umgebracht.“
Frauen und Kinder mußten sich dann innerhalb weniger Stunden nur mit Handgepäck zum Abtransport bereithalten – es ging meist zu Fuß über Tage in unbekannte Richtung unter unvorstellbaren Entbehrungen und Erniedrigungen: Vergewaltigungen ereigneten sich am hellen Tage, Frauen wurden von Gendarmerieoffizieren aus der Menge herausgerissen und an die Männer der Durchgangsorte verschenkt. Es gab nirgends Unterkünfte und keinerlei Verpflegung …
Die Menschenmassen aus Trapezunt und Erzerum wurden bis zur Stadt Erzingan im Hochland Ostanatoliens und am 8., 9. und 10. Juni 1915 durch das Euphrattal zur Kemach-Schlucht getrieben. „Nur ein Bruchteil der Zehntausende erreichte diesen Ort. Berge von Leichen und Halbtoten wurden in den gähnenden Abgrund hinabgeschleudert … Ein Blutstrom sickerte träge die Felswände hinab und vermischte sich mit den reißenden Fluten.“ Seriöse Schätzungen gehen von 25 000 Toten allein an diesem Schreckensort aus! Aber viele weitere Geschehnisse führt der Autor an, bei denen überall Massenmord an Armeniern – unterstützt auch von der manipulierten Bevölkerung – mit Tausenden Toten betrieben wurde. Ein Befehl des Innenministers Talaat lautete: „Es ist bereits mitgeteilt worden, daß die Regierung … beschlossen hat, alle Armenier, die in der Türkei wohnen, gänzlich auszurotten …“
Der Völkerbund appellierte dreimal vergeblich, die Entente brach jedes Versprechen. Der Friedensvertrag von Sevres sprach den Armeniern zwar ein Gebiet im Kaukasus zu, was aber Kemal Pascha (Atatürk) zu verhindern wußte. 1922 zerriß er den Friedensvertrag und warf 1,5 Millionen Griechen „unter barbarischen Umständen“ aus dem Land. „Er konnte mit dem Besitz von Petroleumquellen in Mossul auftrumpfen. Und um des Petroleums willen sind die Armenier um ihre Zukunft betrogen worden.“ Kemal Pascha setzte 1923 in Lausanne einen Friedensvertrag durch, der ihm den Generalpardon brachte.
„Und das Leben oder Sterben eines kleinen Volkes ist eine Bagatelle, wenn dieses Volk die Torheit begangen hat, keine Goldminen und Petroleumfelder zu besitzen“, konstatierte Vierbücher.
Über einen weiteren Hauptort des Genozids an den Armeniern – die Todesmärsche ohne Rückkehr in die syrische Wüste – berichtet der deutsche Konsul in Aleppo, Walter Rößler, im Buch „Entscheidung in Aleppo“ von Kai Seyffarth, das ebenfalls im Donat-Verlag erschienen ist.
Gestützt auf Rößlers Berichte aus der letzten größeren Ansiedlung nach Osten und Station der damals im Bau befindlichen Bagdadbahn, schildert Seyffarth die zunehmende Eskalation bei der Armenier-Vertreibung. Im Amt mußte Rößler zwar vorsichtig agieren, tat das aber mit Zivilcourage. Dabei blieb er ein kaiserlich-preußischer Beamter, der glaubte, daß seine insgesamt über 200 Depeschen und Berichte oft haarsträubenden Inhalts an seinen Botschafter und ans Auswärtige Amt (AA) etwas bewirken könnten.
Rößler erkannte bald, daß es sich um ein koordiniertes Ausrottungsprogramm der türkischen Behörden handelte. Dagegen engagierte er sich in einem Netzwerk zur Rettung von Armeniern in und um Aleppo, das von Missionarinnen aus der Schweiz, Deutschland und Skandinavien, Vertretern europäischer und amerikanischer Hilfsorganisationen, deutschen Professoren und Lehrern, Kaufleuten, Offizieren sowie Ingenieuren der Bagdadbahn organisiert wurde, denen man die armenischen Arbeiter weggeholt hatte. Konsul Rößler übernahm dabei drei entscheidende Aufgaben: Intervention gegen Maßnahmen bei türkischen Stellen, verschlüsselte Weiterleitung ausländischer Zuwendungen und Nachrichtenübermittlung per Diplomatenpost.
Aleppo war Durchgangsstation für Hunderttausende armenischer Deportierter auf ihrem „Fußmarsch in den Tod“. Angeblich wollte man sie in Mesopotamien ansiedeln, was hieß, sie in die dortige Wüste zu schicken, um sie elend verschmachten zu lassen. Die Monate Juli bis September 1915 wurden zum „Sommer des Todes“. Anschließend gab es im Osmanischen Reich nur noch der Zahl nach nennenswerte Gruppen von Armeniern in Konstantinopel, Smyrna und Aleppo sowie in den Todeslagern Syriens und Mesopotamiens.
Aufschlußreich ist die Tatsache, daß Rößler drei Jahre nach seiner Rückkehr aus Aleppo als Zeuge der Verteidigung im Prozeß gegen den armenischen Attentäter Salomon Teilirian aussagen sollte. Dabei ging es am 15. März 1921 um einen tödlichen Anschlag auf den ehemaligen Innenminister und Großwesir Talaat Pascha, der sich mit Wissen des Auswärtigen Amtes unter falschem Namen in Deutschland aufgehalten hatte. Infolge von Bedenken des AA (!) kam es aber nicht zur Prozeßbeteiligung Rößlers, der unter Eid ja die Wahrheit über den Massenmörder Talaat hätte aussagen müssen.
Sensationellerweise erfolgte am 3. Juni 1921 sogar der Freispruch des jungen Mannes durch das Berliner Schwurgericht, nicht zuletzt auch aufgrund der emotionalen Schilderung der an seinen Schwestern und seiner Mutter begangenen Mordtaten. Jahre später stellte sich heraus, daß Teilirian gar nicht am Tatort gewesen war, also die Unwahrheit gesagt hatte.
Heinrich Vierbücher:
Armenien 1915
Donat-Verlag, Bremen 2004, 104 S., eine Karte
ISBN 3-934836-73-9
12,00 €
Kai Seyffarth:
Entscheidung in Aleppo
Walter Rößler (1871–1929) – Helfer der verfolgten Armenier
Donat-Verlag, Bremen 2015, 352 S., diverse Abbildungen, eine Karte
ISBN 978-3-943425-53-6
16,80 €
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