RotFuchs 232 – Mai 2017

Ein Gespräch von 1977 über marxistische Philosophie und Politik

Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie

RotFuchs-Redaktion

DVZ: Sie sind Mitherausgeber der Reihe „Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie“, die im Akademie-Verlag der DDR und im Verlag Marxistische Blätter in der Bundesrepublik erscheint. Welche Ziele setzt sich diese Reihe?

Robert Steigerwald: Zunächst darf ich vielleicht etwas zur Geschichte selbst sagen. Das erste Heft erblickte das Licht der Welt im Jahre 1971, und der Titel war durchaus ein Programm. Er richtete sich gegen den damals, verglichen mit heute, etwas wirkungsvolleren Revisionismus Roger Garaudys. Er war lange Jahre der für ideolo­gische Arbeit verantwortliche Repräsentant der Französischen Kommunistischen Partei, Mitglied ihres Po­litbüros. Garaudy ging in den Jahren nach dem XX. Parteitag der KPdSU, nach der Kritik an Stalin, zum Revisionismus über. Die Reihe selbst wurde ins Leben gerufen von Prof. Dr. Manfred Buhr.

Derselbe, der zusammen mit Georg Klaus das so erfolgreiche „Philosophische Wörterbuch“ (Verlag Enzyklopädie, Leipzig) herausbrachte?

Genau derselbe. Und ich meine, Manfred Buhr hätte sich schon allein mit dieser Reihe verdient gemacht.

Sie heißt ja „Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie“, also nicht nur von Philosophie ist die Rede.

Richtig. Und es geht auch keinesfalls nur um Philosophie. Schon der erste Titel betraf ja nicht nur philosophische, sondern ebenso politische Aspekte des Revisio­nismus. Wenn Sie sich die bis jetzt er­schienenen 75 Titel der Reihe anschauen, so finden Sie darunter auch solche über Fragen der Ästhetik, der politischen Ökonomie, der Geschichtswissenschaft bzw. Geschichtstheorie. Es gibt zahlreiche Titel, die sich mit gängigen Mythen der zeitgenössischen bürgerlichen Ideologie oder des Revisionismus auseinandersetzen.

Gibt es dabei deutlich wahrnehmbare Schwerpunkte?

Ich denke doch. Vielleicht darf ich mit dem Gebiet beginnen, das mir als einem mit der Philosophie besser bekannten am nächsten liegt. Da gibt es eine deutliche Schwerpunktsetzung auf die beiden grundlegenden Richtungen bürgerlicher Philosophie im Imperialismus, also auf Lebensphilosophie und Positivismus. Ich möchte ein paar Titel nennen. Mit der Lebensphilosophie oder mit Tendenzen, die in ihrem Banne stehen, setzen sich auseinander: Walter Jopke in seinem Aufsatz über das Menschenbild in der gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie (Heft 3 der Reihe), die sowjetischen Autoren Motroschilowa und Samoschkin mit ihrer Marcuse-Kritik (Heft 4), die DDR-Autorin Korf in ihrer Kritik an Max Weber und Marcuse (Heft 5). András Gedös Kritik an Erich Fromm (Heft 8) gehört hierhin ebenso wie Dawydows Kritik der Adornoschen Ästhetik (Heft 6). Ebenso gibt es eine umfangreiche Positivismus-Kritik. Ich nenne nur die Titel: Harald Wessels Albert-Kritik (Heft 11). Gedö, Buhr und Ruml stecken das Feld der marxistischen Positivismus-Kritik im Heft 12 ab. Man kann nicht alle und alles nennen.

Es gibt sodann mehrere Titel, die sich mit dem Verhältnis von Marxismus und klassischem Erbe befassen. Als Autoren nenne ich Alexander Abusch. Joachim Streisand und Georg Mende. Aber es gibt eben auch gründliche Auseinander­setzungen auf anderen ideologischen Gebieten, etwa Klenners Kritik der bürgerlichen Rechtstheorie (Heft 14). Mehrere Hefte befassen sich mit den unmittelbar ideolo­gischen Aspekten der im engeren Sinne politischen Theorie.

Wie kommt es, daß die Reihe in zwei Verlagen zugleich erscheint?

Manfred Buhr steuerte von Anfang an eine interdisziplinäre und internationale Orientierung an. Es ist deshalb kein Zufall, daß schon recht früh der Kreis der Herausgeber entstand, dem derzeit folgende marxistische Theoretiker und Politiker angehören: Neben Manfred Buhr, Guy Besse, Mitglied des Politbüros der Französi­schen Kommunistischen Partei, András Gedö, ein international bekannter marxis­tischer Philosoph und Politiker, Professor an der Politischen Hochschule des ZK der Ungarischen Arbeiter-Partei, der bekannte polnische Philosoph von der dortigen Akademie der Wissenschaften Tadeusz Jaroszewski. Aus der Sowjetunion ist Mitherausgeber der Kandidat des ZK der KPdSU Michail Jowtschuk, ein ebenfalls international bekannter marxistischer Philosoph. Aus Bulgarien gehört dem Heraus­geberkreis der Nestor des Politbüros, Todor Pawlos, an, dessen philosophische Arbeiten, insbesondere seine große Monographie zur Widerspiegelungstheorie, ja auch hier bekannt sind. Der tschechoslowakische Philosoph Wladimir Ruml, bei uns besonders durch seine Kritiken am Posivitismus bekannt, wäre zu nennen. Und dann gehöre ich dazu. Diese internationale Orientierung drückt sich auch darin aus, daß viele Hefte der Reihe in verschiedenen Ländern erscheinen. Zum Beispiel sind meine Titel aus der Reihe in mehrere Sprachen übersetzt.

Daß sich der Verlag Marxistische Blätter zur Übernahme der Reihe entschloß, hängt also mit der internationalen Orientierung zusammen. Natürlich auch damit, daß die Reihe ja in der deutschen Sprache erscheint, viele der kritisierten bürgerlichen Ideologen in unserem Lande wirken oder ihre Wirkung bis zu uns reicht.

Sie sprachen von Ihren Titeln in der Reihe. Sind Sie der einzige westdeutsche Autor?

Keineswegs. Der Vorsitzende der Internationalen Hegel-Gesellschaft, Wilhelm Raimund Beyer, ist ebenso mit Titeln über Habermas und die Frankfurter Schule im allgemeinen vertreten wie die jungen bundesdeutschen Wissenschaftler Brand, Kotzias (ein inzwischen in seine Heimat zurückgekehrter Grieche), Sandkühler und Schindler mit einer Kritik an Sohn-Rethel oder Richard Albrecht mit einer gründlichen Korsch-Kritik, um nur einige zu nennen. Weitere Arbeiten von BRD-Autoren kommen. Hier möchte ich vor allem die nächste zur Auslieferung anstehende Nummer nennen: das Heft Nr. 76. Es wurde von Willi Gerns erarbeitet, hat eine Zusammenfassung der grundlegenden Aufgaben auf dem Gebiet der ideologischen Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie in unserem Lande vorgenommen. Ich bin sicher, daß kein am Marxismus orientierter Linker unseres Landes an diesem Heft vorbeigehen kann. Es wird seinen Platz in der Reihe haben.

Sie haben damit angedeutet, daß es außer DDR-Autoren auch solche aus der Bundesrepublik gibt. Wie steht es um die Einbeziehung anderer Autoren?

Eingangs habe ich schon die Namen einiger sowjetischer, ungarischer bzw. tschechischer Autoren genannt. Es wäre noch auf eine umfangreichere Zahl franzö­sischer Autoren zu verweisen. Auch bulgarische Marxisten schrieben für die Reihe. Ich bin sicher, daß sich der internationale Charakter noch ausweiten wird. In diesem Sinne könnte sie auch einen Beitrag zur Stärkung der Einheit des international geführten Kampfes des Marxismus gegen die bürgerliche und revisionistische Ideologie leisten.

Aus: DVZ, Nr. 2/1977

Harald Wessel schrieb über die Reihe: „Sie regt zum Denken an, zur lustvollen Anstrengung des eigenen Gedankens …“ Und weiter: „Der Reiz der Reihe ergibt sich vor allem aus zwei Besonderheiten: erstens aus ihrem kritischen Grundtenor und zweitens aus ihrem aktuell konkreten Inhalt. Kritischer Geist spricht nicht nur überzeugte Anhänger des Marxismus-Leninismus an, sondern auch jene Zeit­genossen, die in den Auseinandersetzungen der Gegenwart ihre eigene Position erst noch suchen. Und die Polemik ist ja ein Wesenszug der von Marx und Engels begründeten, von Lenin weiterentwickelten wissenschaftlichen Weltanschauung der revolutionären Arbeiterbewegung. Alle herausragenden Werke der Klassiker sind streitbare Arbeiten, in denen die weltverändernden Ideen und Einsichten in der Auseinandersetzung mit bürgerlichen Theorien entwickelt werden.“

Der Neue-Impulse-Verlag hat die Bedeutung der Reihe erkannt und sie digitalisieren lassen. Alle in den Jahren 1971 bis 1986 erschienenen 107 Hefte sind auf einem USB-Stick für 48,00 € zu erwerben (Neue-Impulse-Verlag, Hoffnungstr. 18, 45127 Essen, Telefon: 02 01 / 248 64 82).