RotFuchs 188 – September 2013

Zweckoptimistisches aus Hamburg

Rico Jalowietzki

Nur Wochen vor dem Urnengang zum Deutschen Bundestag nimmt das mediale Geschwätz von einer erneuten Schicksalswahl für die BRD wieder deutlich zu. Doch vor welchen Alternativen steht der bundesdeutsche Wähler? Monopolherrschaft pur oder Kapitalismus mit rosa-grünen Farbsprenkeln – mehr ist nicht zu haben. Ständige Meinungsumfragen nehmen dem Wahlakt überdies die Spannung, steht das Ergebnis im Grunde genommen doch schon lange zuvor fest. Doch ganz geschickt kann man mit derlei Zahlenspielereien unentschlossenen Wählern oktroyieren, hinter welcher Partei sie auf dem Stimmzettel ihr Kreuzchen zu machen haben. Denn wer möchte nicht wenigstens einmal im Leben zu den Siegern gehören!

Problematisch wird es erst, wenn große Teile des vom Kabarettisten Georg Schramm ausgemachten „Urnenpöbels“ ihre Unlust kundtun, eine Wahlkabine überhaupt noch betreten zu wollen. Dann muß zeitnah gute Laune verbreitet werden. Hierfür steht in der BRD eine ganze Armada bourgeoiser Medien bereit. Den Vogel bei solcher positiven Stimmungsmache hat in diesem Jahr vermutlich die in Hamburg erscheinende Wochenschrift „Die Zeit“ abgeschossen, die im Rahmen einer Artikelserie in großen Lettern titelte: „Wir haben schlechte Nachrichten: Es geht uns gut.“ Dazu gesellte sich folgende Unterzeile: „Ob Bildung, Familie, Umwelt oder Gesundheit – nie war die Lage besser. Diese und andere Erfolgsmeldungen will nur keiner richtig wahrhaben.“

Wochen- und seitenlang wurde dann schöngefärbt, was die aktuelle Lage in der BRD so alles hergibt. Zum Glück habe die Psyche schuld, daß die Deutschen die Welt düsterer sähen als sie wirklich sei – so die Meinungsmacher von der Alster. Es wäre aber auch fatal gewesen, wenn der Verstand von deutschen Frauen und Männern hier schon ins Spiel gekommen wäre. Die „Zeit“-Redakteure hätten sich ihre Arbeit dann nämlich glatt sparen können. Immerhin wurde in einem Halbsatz erwähnt, daß „nicht alle in gleichem Maße von diesem Mehr an Lebensqualität und Wohlstand profitieren“. Damit sollte es an kritischen Äußerungen aber auch genug sein.

„Schrecklich gesund – Trotz vieler Lebensmittelskandale: Jeder kann sich heute gut ernähren“, war weiter zu erfahren. Wobei die Betonung auf dem Wort jeder liegen sollte. Diesen Satz müßte man einer alleinerziehenden Mutter mit zwei Kindern, einem Hartz-IV-Empfänger oder einer Rentnerin mit Nettobezügen von 550 Euro vorlegen. Unterschreiben würden sie ihn garantiert nicht, weil ihr monatliches Budget niemals ausreicht, sich täglich hochwertige Lebensmittel, obendrein auch noch biologisch erzeugt, leisten zu können.

„Aber sicher! – Von wenigen Delikten abgesehen, sinkt die Zahl der Verbrechen jährlich.“ Es ist das Pech des „Zeit“-Autors, daß die polizeiliche Kriminalstatistik in dieser Hinsicht etwas ganz anderes aussagt. So stieg z. B. die Zahl der Wohnungseinbrüche in der BRD im Jahr 2012 auf 144 117 – ein beschämender Rekord! Und weil man hierzulande so sicher leben kann, muß derzeit vor dem Oberlandesgericht in München auch die NSU-Mordserie verhandelt werden.

„Alles so sauber – Der Himmel über dem Ruhrgebiet ist wieder blau. Ein Besuch in der einst dreckigsten Region Deutschlands.“ Ganz bestimmt ein schöner Aspekt. Doch findet sich in dem Beitrag kein deutliches Wort zur Kehrseite der Medaille. Denn der wirtschaftliche Kahlschlag im Ruhrgebiet, der letztlich die Voraussetzung für die Gesundung der ökologischen Umwelt war, wird hier lieber nur am Rande erwähnt. Doch die offiziell 14,3 Prozent Arbeitslosen in Gelsenkirchen oder die Erwerbslosen von Dortmund, Duisburg und Essen bleiben außer Betracht. Die von der „Freisetzung“ Betroffenen haben jetzt wenigstens genügend Zeit, sich bei ausgedehnten Spaziergängen am frischen Grün der Wiesen und an der Klarheit sauberer Flüsse zu erfreuen. Ob das allein ausreicht, um ein erfülltes und materiell abgesichertes Leben führen zu können? – „Verdammt alt – Unsere Lebenserwartung steigt, dank des medizinischen Fortschritts.“ Sicherlich eine begrüßenswerte Entwicklung. Doch die entscheidende Frage ist dabei wohl eher, unter welchen Bedingungen Menschen altern. Wer irgendwann auf stationäre Pflege angewiesen ist und beispielsweise im Winterhalbjahr ab 16 Uhr im Dunkeln liegt, weil keiner der völlig überlasteten Betreuer die Zeit hat, außerhalb der regulären Zimmerdurchgänge mal schnell das Licht anzuschalten, der wird es wohl verfluchen, „verdammt alt“ zu werden. Und gleiches gilt für den Sommer, wenn die so „Umsorgten“ zwei oder drei Stunden lang nichts zu trinken gereicht bekommen.

Ganz groß wurde außerdem ein Beitrag unter dem Titel „Der Siegeszug der Demokratie“ ins Bild gesetzt. Doch wo Sieger sind, gibt es auch Verlierer. Und es fragt wohl kaum jemand das afghanische Volk, wie glücklich es nach etwa zwölf Jahren Kriegszustand über diesen „Siegeszug der westlichen Demokratie“ ist. Die aktuelle Lage in Ägypten mit dem sicher von den Massen gewollten Sturz Staatspräsident Mursis, der erst im Juni vergangenen Jahres „frei“ gewählt und dabei von den westlichen Mächten als ihnen genehmer neuer Heilsbringer hofiert wurde, zeigt zweierlei: einerseits die Kraft des Volkes, andererseits aber auch das Vermögen der Imperialisten, die einen Figuren durch andere ähnlicher Art beliebig auszutauschen. Ein „Siegeszug der Demokratie“ ist das wohl kaum.

Der „Zeit“-Titel „Die Bildungsexpansion“ dürfte nicht nur beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung für ein müdes Lächeln gesorgt haben. Dieses kritisierte nämlich erst jüngst, daß die BRD lediglich 5,3 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für die Bildung der Kinder ausgibt. Damit liegt der angebliche europäische Vorreiterstaat hinter den meisten OECD-Ländern deutlich zurück.

Das Hamburger Wochenblatt hat somit sein möglichstes getan, um die BRD vor der Bundestagswahl ins rechte Licht zu rücken. Nun kommt es auf die Wähler an. Nämlich darauf, ob sie sich von derartigen Schlagzeilen beeindrucken lassen oder nicht.