Der „Tag des Bergmanns“ und das „Wunder von Bern“
Zwei Seelen in einer Brust
Aus der Geschichte des Sports und vor allem von Wettkämpfen sind außergewöhnliche Ereignisse bekannt, die kaum in Vergessenheit geraten können. In diesem Jahr – es findet in Brasilien die Fußball-Weltmeisterschafts-Endrunde statt – dürfte mit unterschiedlicher Akzentuierung einmal mehr an das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft zwischen Ungarn und der BRD erinnert werden, das vor 60 Jahren in Bern ausgetragen wurde. Hier soll im Rückblick davon die Rede sein, wie ich als junger Bürger und Sportler der DDR dieses Spiel erlebt habe.
Im Februar 1945 kam es für mich damals Zehnjährigen zu einem ungewollten, vom faschistischen Staat befohlenen Ortswechsel, den man als „Flucht“ bezeichnete. Wir gelangten von Breslau in das Dorf Lipprechterode im Kreis Nordhausen, der zu Thüringens Südharzgebiet gehört. Der Ort liegt nur etwa zwei Kilometer von Bleicherode entfernt, einem Städtchen mit rund 10 000 Einwohnern, wo sich ein sehr bekanntes Kalibergwerk befindet. Die berufstätige männliche Bevölkerung der Region bestand ganz überwiegend aus Fachkräften des Bergbaus und anderer handwerklicher Berufe, die unter oder über Tage tätig waren.
In den 50er Jahren hatte sich in Bleicherode die leistungsfähige Betriebssportgemeinschaft „Aktivist“ entwickelt, deren Trägerbetrieb das Kalibergwerk war. 1951 schloß ich mich der Sektion Fußball an, spielte zunächst in der B- und A-Jugend und gehörte 1953/54 zur 1. Fußballmännermannschaft.
Um die Trainingsmöglichkeiten optimal wahrnehmen zu können, die das Werk seinen Sportlern bot, hatte ich eine Arbeit als Grubenzimmermann im Trägerbetrieb der BSG aufgenommen. Ich war praktisch von diesem Zeitpunkt bis Mitte September 1954 Bergmann.
Mit dem Hineinwachsen in das Jugendalter und durch den Einfluß des Trainers, der Spieler und Arbeitskollegen, die überwiegend mehr als zehn Jahre älter als ich waren, erweiterte sich mein Blick für das sportliche Geschehen über das Territorium hinaus. Die Entwicklung des Fußballsports in der DDR, der BRD und im internationalen Rahmen wurde nun intensiver verfolgt und mit Sportfreunden wie Arbeitskollegen diskutiert. Große Teile der männlichen Bevölkerung von Bleicherode und der umliegenden Dörfer waren sehr fußballbegeistert. Bei Heimspielen der Männermannschaft, die in der Landesliga spielte, waren nicht selten mehr als 1000 Zuschauer anwesend.
So rückte in der ersten Hälfte des Jahres 1954 auch das bevorstehende Endrundenturnier der Fußball-Weltmeisterschaft im Juni/Juli in der Schweiz mehr und mehr in den Mittelpunkt vieler Gespräche. Die BRD-Mannschaft hatte sich qualifiziert, gehörte aber nicht zu den von der Weltfußballorganisation (FIFA) gesetzten, leistungsmäßig besseren Mannschaften. Warum die DDR an den Qualifikationsspielen für die WM 1954 nicht teilnahm und damit in der Schweiz auch nicht präsent war, konnte sich damals in meinem Umfeld niemand erklären. Erst Jahre später, als ich mich während des Studiums auch für sportpolitische Hintergründe interessierte, erfuhr ich, daß die damalige Sektion Fußball der DDR zu einem Zeitpunkt in die FIFA als Vollmitglied aufgenommen worden war, als die Gruppeneinteilung für die Qualifikationsspiele zur WM bereits stattgefunden hatte. Westdeutsche Sportfunktionäre folgten der berüchtigten Alleinvertretungsanmaßung des Bonner Staatssekretärs Hallstein und hatten durch ihren Einfluß in der FIFA nicht unwesentlich zu den Verzögerungen bei der 1952 erfolgten Aufnahme der DDR in diese beigetragen. Der damalige Präsident des westdeutschen Fußballbundes (DFB) Bauwens erhielt beispielsweise von der FIFA mitgeteilt: „Es ist selbstverständlich, daß Deutschland bei den Weltmeisterschaften nur durch eine Mannschaft vertreten werden kann.“
Die BRD-Nationalmannschaft hatte bis zum Zeitpunkt des WM-Endrundenturniers keine überdurchschnittlichen Leistungen bei Länderspielen gezeigt. Während des Turnierverlaufs steigerte sie sich aber von Spiel zu Spiel und kam überraschend in das Finale, das man für den 4. Juli 1954 im Berner Wankdorf-Stadion angesetzt hatte. Endspielgegner war Ungarn. Gegen diese Mannschaft hatte das Team der BRD schon in der Vorrunde gespielt und dabei 8:3 verloren. BRD-Trainer Herberger setzte mehrere Reservespieler ein, um Stammkräfte zu schonen, und rechnete selbst mit einer Niederlage. Er ging davon aus, daß beide Mannschaften im Endspiel wieder aufeinandertreffen könnten, was dann ja auch geschah.
Die Ungarn wurden in diesen Jahren als eine der weltbesten Fußball-Nationalmannschaften bezeichnet. Sie hatten in 32 vorangegangenen Länderspielen nicht ein einziges Mal verloren. Ungarn wurde Fußball-Olympiasieger 1952 in Helsinki und gewann am 25. November 1953 im Londoner Wembley-Stadion gegen England sensationell mit 6:3. Dieses Kräftemessen wurde als „Spiel des Jahrhunderts“ bezeichnet, da die Briten bis dahin im eigenen Land noch nie von einer europäischen Mannschaft bezwungen worden waren. Auch im Rückspiel, das am 23. Mai 1954 in Budapest nur wenige Wochen vor der WM stattfand, wurde England mit einem Ergebnis von 7:1 durch die ungarische Mannschaft geradezu deklassiert. Im Endrundenturnier in Bern hatte sich das Puskas-Team gegen die hoch eingeschätzten Brasilianer und den Titelverteidiger Uruguay durchgesetzt. Die Vorzeichen, Weltmeister zu werden, standen also für die Mannschaft aus Budapest sehr gut.
Im Kreis der Sportfreunde und Arbeitskollegen wurde lebhaft über den vermuteten Ausgang gesprochen. Überwiegend gehörte die Sympathie der ungarischen Mannschaft, zumal ihr Land zur sozialistischen Staatengemeinschaft zählte und auch aus diesem Grunde nicht wenig Zuneigung besaß. Eine solche Einordnung bei sportlichen Vergleichen spielte während des Ost-West-Konflikts im Denken größerer Teile der Bevölkerung eine gewisse Rolle.
Andererseits war der Gegner der Ungarn ja nicht irgendeine Mannschaft, sondern das Team des anderen deutschen Staates. Deshalb zeigte sich im Kontakt mit Bergleuten, Kollegen und Sportfreunden, daß nicht wenige von ihnen den deutschen Spielern zuneigten, obwohl diese eigentlich chancenlos sein mußten. So schlugen bei dem Fußballsport Verbundenen zwei Herzen in einer Brust.
Der 4. Juli 1954 war ein Sonntag. Nach Festlegungen der Regierung der DDR galt jeweils der erste Sonntag dieses Monats als „Tag des Bergmanns“. 1954 fiel das Endspiel um die Fußball-Weltmeisterschaft also mit ihm zusammen. Für das Bergarbeiter-Städtchen Bleicherode erfuhr der Tag noch dadurch eine besondere Aufwertung, daß die zentrale Festveranstaltung diesmal im Kulturhaus des Kaliwerkes stattfand. Eine offizielle Delegation unter Leitung des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl sowie Vertreter anderer Bergarbeiter-Städte der DDR waren eingetroffen. Grotewohl hielt die Festansprache. Aus Gesprächen in Bleicherode konnte man entnehmen, daß sich die Kumpel und Einwohner über den hohen Besuch aus Berlin freuten. Mit einem Marsch der Bergleute, den Spielmannszüge anführten, begab man sich am Nachmittag auf den großen Festplatz. Das Motto lautete: „Ich bin Bergmann, wer ist mehr?“ Als solcher gehörte ich natürlich ebenfalls zu den Eingeladenen. Man hatte das Gefühl, daß sich die Mehrheit der Anwesenden durchaus mit der Politik von Partei und Regierung identifizierte. Schließlich ging es in diesen schweren Nachkriegsjahren mit der DDR wirtschaftlich für alle spürbar aufwärts.
Am Nachmittag verfolgten besonders die Männer an mitgebrachten kleinen Radios die Übertragung aus Bern. An Imbißständen, wo größere Empfangsgeräte standen, waren die Berichte vom Endspiel nicht zu überhören. Die Atmosphäre schien angespannt, doch ruhig zu sein. Als die BRD dann aber nach einem 0:2-Rückstand 3:2 gewann, brachen die Anwesenden in Jubel aus. Viele riefen: „Wir sind Weltmeister.“ Ob die Gruppe, zu der ich mich gestellt hatte, die Übertragung des BRD-Reporters Herbert Zimmermann oder den Kommentar von DDR-Reporter Wolfgang Hempel hörte, vermag ich nicht mehr zu sagen.
Die Namen der Weltmeister-Elf waren von nun an in aller Munde. Das Nichterwartete war eingetreten. Die BRD-Mannschaft hatte ein „Wunder“ vollbracht, das westdeutsche Journalisten sofort als „Wunder von Bern“ bezeichneten. Einige Jahre nach dem legendären Spiel, als ich mich unter sportpolitischer Sicht nochmals dem Thema zuwandte, erfuhr ich, daß die leitenden Funktionäre des Fußballverbandes der DDR Glückwünsche an den Kapitän der BRD-Mannschaft Fritz Walter und die anderen Spieler geschickt hatten. Die Berichterstattung der DDR-Medien war von Sachlichkeit und Anerkennung der sportlichen Leistung der BRD-Nationalmannschaft geprägt, wie man auch aus westdeutschen Presseorganen erfahren konnte. Ungarn erwies sich als fairer Verlierer.
Nach meiner Erinnerung wurde die Niederlage der ungarischen Mannschaft von vielen DDR-Bürgern als enttäuschend betrachtet und bedauert. Leider verlor der Fußball der Magyaren dann in der Leistungsspitze Schritt für Schritt an Bedeutung. Bekannte Spieler des Vize-Weltmeisters wie Puskas verließen ihr Land und wurden Profis in kapitalistischen Staaten. Für die BRD-Mannschaft empfand man berechtigte Anerkennung ihrer sportlichen Leistung. Sie betraf eine Elf, die den anderen deutschen Staat vertreten hatte. So wurden an jenem Tag von demselben Personenkreis – Bergleuten, Einwohnern Bleicherodes und deren Gästen – zwei völlig unterschiedliche Ereignisse gefeiert: der politisch würdevoll gestaltete „Tag des Bergmanns“ der DDR und der Sieg der BRD-Nationalmannschaft in der Weltmeisterschaftsendrunde.
Wie beide Ereignisse von den Teilnehmern am Bergmannsfest wahrgenommen und kommentiert wurden, widerspiegelte recht anschaulich das uneinheitliche Stimmungsbild und das Denken einer Mehrheit der DDR-Bevölkerung während der 50er Jahre, als die Gründung des deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staates erst kurze Zeit zurücklag. Eine differenziertere und exaktere Bewertung der Politik von DDR und BRD erfolgte in dieser frühen Periode nur ansatzweise. Politische Debatten endeten damals nicht selten mit dem Satz: Wir sind doch alle Deutsche.
Das war auch nach dem Schlußpfiff und dem überraschenden Sieg der bundesdeutschen Mannschaft nicht anders. Die Staatsangehörigkeit spielte zu diesem Zeitpunkt bei vielen noch eine eher ungeordnete Rolle. Zwar fühlte man sich im Alltag mit der Politik der DDR, die eine antifaschistisch-demokratische und dann sozialistische Gesellschaftsordnung unter den Losungen „Nie wieder Krieg!“ und „Von deutschem Boden darf nur noch Frieden ausgehen!“ verfolgte, in besserer gedanklicher Übereinstimmung. Andererseits ging man hinsichtlich der Politik der BRD, die zur Restauration militaristischer und revanchistischer Kräfte führte und eine Alleinvertretung aller „Deutschen“ – auch in den internationalen Sportbeziehungen – durchzusetzen suchte, mehr auf Distanz.
Es gab aber in den 50er Jahren auch nicht wenige, die einer in zwei selbständige souveräne Staaten geteilten deutschen Nation skeptisch gegenüberstanden. Damals unterbreitete die DDR-Regierung der politischen Führung der BRD wiederholt Vorschläge zu einer Wiedervereinigung beider deutscher Staaten auf demokratischer Grundlage. Sie fanden in dem Aufruf „Deutsche an einen Tisch!“ ihren Niederschlag. Die Adenauer-Regierung beantwortete solche Angebote nicht oder lehnte sie ab. Auch die Zusammenarbeit mit den westdeutschen Sportverbänden war noch nicht völlig zum Erliegen gekommen. In einigen Disziplinen gab es bis Mitte der 50er Jahre noch gesamtdeutsche Meisterschaften. So fand am Tag des Berner Endspiels in Bad Kreuznach ein solches deutsch-deutsches Kräftemessen im Gewichtheben statt.
Die Begeisterung für die Weltmeistermannschaft der BRD wich indes bald wieder den Realitäten. Das Sportgeschehen und die Entwicklung der DDR standen erneut im Mittelpunkt der Gespräche. Doch die Fußball-Nationalmannschaft und die Clubmannschaften der DDR wurden von nun an stets an den Leistungen der westdeutschen Weltmeistermannschaft und den Ergebnissen der Vereinsmannschaften in europäischen Wettbewerben gemessen. Leider konnte der DDR-Fußball das Leistungsniveau der BRD nicht erreichen. Der unerwartete Sieg der DDR-Nationalmannschaft gegen das Team der BRD mit 1:0 während der Weltmeisterschaftsendrunde 1974 in Hamburg und einzelne beachtliche Resultate der Clubmannschaften von Magdeburg, Jena und Leipzig entkräften diese Einschätzung zum Niveau des DDR-Fußballs nicht. Darin liegt insofern eine gewisse Tragik, weil der DDR-Leistungssport bekanntlich in vielen anderen Disziplinen über Jahrzehnte hinweg, vor allem seit 1972, dem der BRD bei Olympischen Spielen, Weltmeisterschaften und im internationalen Wettkampfgeschehen deutlich überlegen gewesen ist. Die Maßnahmen zur Förderung des Leistungssports in der DDR konnten aus unterschiedlichen Gründen beim Fußball nicht greifen.
Um den Gewinn der WM 1954 durch die westdeutsche Mannschaft ranken sich bis heute die verschiedensten Mythen und Legenden. „Wir sind wieder wer“, verkündeten schon damals die Medien der Bourgeoisie. Völlig aus der Deckung kamen jene revanchistischen Kräfte, die vom „verspäteten Endsieg“, von der „auferstandenen Nation“ und vom „Symbol unzerstörbarer deutscher Tugenden“ sprachen. Die Spieler wurden zu Helden hochstilisiert, obwohl sie es selbst gar nicht sein wollten.
Mit der Teilnahme an den Feierlichkeiten zum „Tag des Bergmanns“ verabschiedete ich mich 1954 von meinem Umfeld als Kumpel und von meiner aktiven Zeit als Fußballspieler der BSG „Aktivist“ Bleicherode. Ich hatte bereits mehrere Wochen zuvor die Bestätigung erhalten, das Abitur an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät nachholen und anschließend ein Direktstudium an der Deutschen Hochschule für Körperkultur und Sport aufnehmen zu können. Anfang September 1954 reiste ich nach Leipzig. Es war der Beginn einer neuen Phase meiner beruflichen Qualifizierung auf dem Gebiet des Sports – als künftiger Dozent an der DHfK.
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