Über DDR-Errungenschaften, die in der BRD
unerfüllte Träume blieben
Zwei Verfassungen und ein Grundgesetz
Am 3. Oktober 1990 wurde den Bürgern der DDR das Grundgesetz der BRD übergestülpt – mit allen bekannten Folgen. Um eine in diesem vorgesehene Volksabstimmung über eine gemeinsame neue Verfassung aller Deutschen nach Artikel 23 GG zu umgehen, wurde mit vielen juristischen Tricks ein „Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland“ nach Artikel 146 GG fingiert. Allen Deutschen wurde damit diese Pseudo-Verfassung verordnet.
Erinnern wir uns: Schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eröffneten die westlichen Siegermächte mit Churchills berüchtigter Fulton-Rede den Kalten Krieg gegen die Sowjetunion. Zwischen Februar und Juni 1948 fand in London eine Sechsmächtekonferenz un-ter Ausschluß der UdSSR statt. Dort ging es um die Zukunft der drei Westzonen Deutschlands. In den „Frankfurter Dokumenten“ wurden die Ministerpräsidenten der Länder aufgefordert, bis zum 1. September 1948 eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen. Sie trafen sich im Juli 1948 in Koblenz und gaben dort ein Lippenbekenntnis zur deutschen Einheit ab. Bei einer Konferenz auf Schloß Niederwald legten sie fest, daß ein Parlamentarischer Rat ein Grundgesetz ausarbeiten solle, dessen Ratifizierung man lediglich den Landtagen überlassen wollte. Eine Volksabstimmung war nicht vorgesehen.
Vom 10. bis zum 23. August tagte auf Herrenchiemsee der „Verfassungskonvent“ aus hohen Beamten. Der von ihnen ausgearbeitete Entwurf wurde dem Parlamentarischen Rat vorgelegt – einer Versammlung aus 65 Abgesandten der westlichen Bundesländer und fünf nicht stimmberechtigten Vertretern Westberlins. Am 8. Mai 1949 wurde das Grundgesetz dann mit 53 Jastimmen angenommen. Die 12 Gegenstimmen kamen von der KPD, der Deutschen Partei, der Zentrumspartei und – was heute schamhaft verschwiegen wird – der CSU. Das bayerische Landesparlament lehnte das Grundgesetz rundweg ab.
In der sowjetischen Besatzungszone ging man andere Wege. Als Reaktion auf die Londoner Konferenz trat der von der Bevölkerung gewählte 3. Deutsche Volkskongreß zusammen. Er bestimmte aus seiner Mitte den 400köpfigen Deutschen Volksrat. Dieser berief einen Verfassungsausschuß unter Leitung Otto Grotewohls, der den Entwurf für die Konstitution einer Deutschen Demokratischen Republik erarbeiten sollte. Angedacht war dabei ein einheitliches, friedliebendes und antifaschistisch-demokratisches Deutschland. Der Entwurf wurde nach seiner Bekanntgabe in Betrieben, Verwaltungen, Schulen und Universitäten, Parteien und Massenorganisationen von Millionen Menschen diskutiert. Mehr als 9000 öffentliche Versammlungen fanden statt, über 15 000 Zuschriften und Änderungsvorschläge gingen beim Deutschen Volksrat ein. 503 davon wurden dort erörtert, was zur Folge hatte, daß 52 der 144 Artikel des Verfassungsentwurfs Änderungen erfuhren.
Am 30. Mai 1949 bestätigte das Gremium das Dokument. Am 7. Oktober 1949 wurde es als „Gesetz über die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik“ auf der konstituierenden Tagung des nun zur Provisorischen Volkskammer umgewandelten Volksrates beschlossen.
Die erste Verfassung der DDR kam also unter absolut demokratischen Bedingungen zustande, von denen die verfassungsrechtliche Wirklichkeit der BRD bis heute Lichtjahre entfernt ist. In ihr waren Rechte und Grundsätze verankert, die man im Grundgesetz vergeblich sucht. So kannte man bereits ein Asylrecht. Im Artikel 15 war das Recht auf Arbeit festgeschrieben, im Artikel 16 das Recht auf Erholung und Gesundheit. Im Artikel 18 wurde der Staat zur Schaffung eines einheitlichen Arbeitsrechts verpflichtet.
Die Bodenschätze wurden in Volkseigentum überführt. Artikel 32 gewährleistete den Mutterschutz, Artikel 33 die Gleichberechtigung außerehelich geborener Kinder. Artikel 35 sicherte das Recht auf Bildung für alle Bürger. Diesbezügliche Privilegien wurden abgeschafft. Die Artikel 41 bis 48 regelten die Religionsfreiheit, aber auch die bis heute in der BRD nicht erreichte Trennung von Staat und Kirche.
Ich hätte nie gedacht, daß es Spaß machen könnte, eine Verfassung von A bis Z zu lesen. Bei der Lektüre der DDR-Verfassung wurde ich indes anderen Sinnes. Alle Artikel entsprachen der Lebenswirklichkeit. Die sozialen und politischen Errungenschaften der DDR blieben für BRD-Bürger unerfüllte Träume. Warum weigert sich der Staat des deutschen Kapitals z. B. bis heute, ein Arbeitsgesetzbuch einzuführen?
Das Grundgesetz wurde seit 1949 offiziell 59 mal geändert und dadurch total verwässert. Anfangs aus 146 Artikeln bestehend, vermehrte sich deren Zahl bis 2010 auf 191.
1968 wurde der Bevölkerung der DDR ein neuer Verfassungsentwurf unterbreitet. Im Vorfeld ihrer Annahme wurden abermals Tausende Vorschläge von Bürgern und Kollektiven eingereicht und viele von ihnen gründlich erörtert. Wiederum flossen etliche davon in den Text ein. Nach monatelanger Debatte entschieden sich über 90 Prozent der DDR-Bürger in geheimer Abstimmung für die sozialistische Verfassung.
In einem Internet-Lexikon erfährt man abwertend, das sei der einzige Volksentscheid in der Geschichte der DDR gewesen. Doch man müßte hinzufügen, daß diese Form direkter Demokratie in der BRD völlig unbekannt ist. Das Grundgesetz sieht Volksentscheide und Volksbegehren auf Bundesebene erst gar nicht vor, während die erste DDR-Verfassung sie schon 1949 im Artikel 3 verankerte!
Eine Verfassung ist immer auch eine Aufforderung an die Gesellschaft, den konstitutionellen Anspruch in die Wirklichkeit umzusetzen. Eingelöst werden kann dieser jedoch nur unter sozialistischen Bedingungen. Sie haben zur Voraussetzung, daß die arbeitenden Klassen die politische Macht ausüben und die Produktionsmittel Gemeinbesitz sind. Ein noch so wohlformuliertes Grundgesetz, dessen Verteidigung gegen den Ansturm faschistoider Kräfte unerläßlich ist, bleibt immer Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie. Demgegenüber waren die DDR-Verfassungen von 1949 und 1968 weit mehr als beschriebenes Papier, da Wort und Tat zusammenfielen.
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